海、静かな海 „Stilles Meer“: Eine Erklärung von Toshio Hosokawa

„Meine vierte Oper Stilles Meer ist ein Auftragswerk für die Staatsoper Hamburg. Die Textvorlage stammt von Oriza Hirata, das darauf basierende Libretto von Hannah Dübgen, die auch die Librettistin meiner Oper Matsukaze ist.

Ich habe Oriza Hirata darum gebeten, den Schauplatz des japanischen Nô-Stückes „Sumidagawa“, einer Tragödie über eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, nach Fukushima zu verlegen und zum Hauptort des Geschehens zu machen. Mit Benjamin Brittens „Curlew River“ liegt bereits eine gelungene Opernadaption des Nô-Stückes vor. Da „Curlew River“ sich eher in der Gedankenwelt des Christentums bewegt, tendierte ich zu einer dem Original näherstehenden Geschichte mit Bezug auf den Buddhismus. Oriza Hirata hat den Roman „Maihime“ des bedeutenden modernen japanischen Schriftstellers Ōgai Mori in das Stück „Sumidagawa“ eingearbeitet. So entstand Stilles Meer, eine Geschichte, die an jenen Orten spielt, die von Tsunami und Atomkraftkatastrophe betroffen waren.

Das Tōhoku-Erdbeben und der Tsunami im Jahr 2011 sowie die dadurch ausgelöste Atomkatastrophe ließen mich erneut über Naturgewalten und die menschliche Arroganz nachdenken. Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur und soll dazu anregen, einmal mehr zu reflektieren, dass die Menschheit die elementare Kraft der Natur gleichermaßen respektiert wie fürchtet, und wie sie bei dem Versuch, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren, diese letztendlich zerstört. Mein Orchesterstück Circulating Ocean (2005) beschreibt musikalisch den Kreislauf des Lebens – wie Meerwasser zu Dampf, Wolke, Regen, Sturm wird und abermals auf die Erde fällt, um seinen Weg zurück ins Meer zu finden. Wasser ist eine Metapher für das menschliche Leben; es entsteht im Meer und kehrt dorthin zurück. In der Oper Stilles Meer ist der Ozean, die Quelle dieses Lebens, durch Radioaktivität verseucht und dieser Kreislauf unterbrochen worden. (In meiner Oper erscheinen in einer Szene Dorfbewohner, die das „Tōrō nagashi“ zelebrieren. In dieser japanischen Zeremonie verwenden die Menschen eine Papierlaterne als Sinnbild für die Seele der Verstorbenen und übergeben sie dem Meer, der Quelle des Lebens.)

Die Protagonistin Claudia entspricht der Rolle der Mutter beziehungsweise verrückten Frau in „Sumidagawa“. Sie kann den Verlust ihres geliebten Sohnes nicht akzeptieren. Indem sie ihrer Trauer durch Gesang Ausdruck verleiht und das buddhistische Gebet vorträgt, wird dieser Schmerz in einer anderen Dimension erfahrbar. Als Gegenstand des Gesangs und durch die Umwandlung in Musik erhält er eine Form sowie mehr Tiefe und Transparenz. Ich glaube daran, dass der Musik schamanische Kräfte innewohnen. Claudia ist eine Schamanin („Miko“). Durch ihren Gesang kann sie diese Welt und das Jenseits miteinander verbinden und mit den Seelen der Verstorbenen in Beziehung treten.

Ich widme die Oper Stilles Meer den Opfern des Tōhoku-Erdbebens und des Tsunamis.“

– Toshio Hosokawa