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Ein Klassiker immer wieder gut: „Hänsel und Gretel“

Tradition: Auch 2020 wird der Weihnachts-Klassiker „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Hamburg aufgeführt. Seit der ersten Vorstellungsserie 1972 hob sich in den vergangenen 48 Jahren bereits 263 Mal der Vorhang für die Märchenoper in der (Vor-)Weihnachtszeit. Wie war der Zeitgeist um die Premiere der ältesten Produktion dieses Opernhauses?

Im Jahr 1972, dem Jahr der Premiere von „Hänsel und Gretel“, die wir noch heute als älteste Produktion der Staatsoper Hamburg im Spielplan haben, bewegten einige historische Ereignisse die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: der Konflikt zwischen nordirischen Katholiken und Protestanten kulminierte im „Bloody Sunday“, in den USA rumorte die Watergate-Affäre, die Geiselnahme durch palästinensische Terroristen in Fürstenfeldbruck endete in einer Katastrophe, und in Stockholm fand die erste Umweltkonferenz der Geschichte statt. In Hamburg feierte man die Premiere von Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“. Regie führte der damals berühmte Regisseur Peter Beauvais, bekannt geworden durch anspruchsvolle Verfilmungen von Theaterstücken und Adaptionen von Prosaliteratur fürs Fernsehen: Hauptmanns „Die Ratten“, O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser – mit den besten deutschen Schauspielern wie Martin Benrath, Sabine Sinjen oder Götz George.

Als Sohn eines jüdischen Unternehmers war Beauvais mit 20 in die USA emigriert, hatte sich in New York zum Schauspieler ausbilden lassen und in einigen Broadwayproduktionen gespielt. 1946 kehrte er nach 10 Jahren als amerikanischer Soldat wieder zurück nach Deutschland. Er arbeitete als Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen, war „alliierter Theateroffizier“ und begann wieder zu spielen: im Film in einigen internationalen Produktionen (u. a. mit Elia Kazan und Gregory Peck) und am Theater u. a. in München, Hamburg und Stuttgart in Werner Fincks Kabarett „Die Mausefalle“. Danach begann seine große Zeit als Drehbuchautor und TV-Regisseur. 1971 folgte seine erste Opernregie „Lucia di Lammermoor“ an der Staatsoper Hamburg mit Plácido Domingo und Joan Sutherland und ein Jahr später eben „Hänsel und Gretel“.

Eigentlich hatte der Intendant der Staatsoper Rolf Liebermann sich und anderen versprochen, diese Oper an seinem Haus niemals auf den Spielplan zu nehmen, er wollte seine Vorliebe für Uraufführungen mit einer Opernversion des Astrid Lindgren-Klassikers „Mio, mein Mio“ fortsetzen. Doch als der Komponist nicht fertig wurde – was öfter vorkommt, als man glauben mag – biss der Intendant in den sauren Apfel und setzte „Hänsel und Gretel“ an.

„Hänsel und Gretel“ – Ein märchenhaftes Bühnenbild.

Liest man heute die Kritiken der Premieren, ist man überrascht, dass der heutige Eindruck der Inszenierung auch der damalige war: traditionelle Machart, märchenhaftes Bühnenbild, keinerlei „aktualisierende“ Bildfindungen. In der Inszenierung sind aber auch Dinge zu sehen, die man heute auf dem Theater nicht mehr findet, und was man in den alten Zeiten noch „offene Verwandlung“ nannte, nicht einfach nur „Vorhang zu, Umbau, Vorhang auf “.

Eine Verwandlung ist nämlich ein zauberischer, irrealer, im besten Sinne nicht glaubwürdiger Vorgang: ein Ereignis, das eher der poetischen Logik der Geschichte entspringt als der pragmatischen Bühnenbaunotwendigkeit. Wenn Hänsel und Gretel links am Fuß des großen Baumes einschlafen, zieht sich das Licht ein, und wir folgen dieser Konzentration des Blicks durch die unterstützende Suggestionskraft der Musik – und bemerken einfach nicht, dass im Bühnenhintergrund auf der rechten Seite der Chor der Engel schon steht. Erst wenn schwaches, schimmerndes Licht auf die Kostüme fällt, wird uns klar, dass wir den prosaischen Vorgang des Umbaus nicht wahrgenommen haben, sondern die Bühnenmaschinerie unsere Sinne getäuscht und übertölpelt hat. Und wir genießen das.

Doch der leicht missbilligende Ton in den Kritiken deutet darauf hin: damals empfand man die Produktion als enttäuschend „altmodisch“, althergebracht, unmutig. Worte wie „stilgerecht“ verbrämen noch den negativen Eindruck, doch bei dem Engelschor werde die „Grenze des Kitsches“ überschritten. Beauvais und sein Ausstatter Jan Schlubach wären stilistisch nicht nur ins Jahr 1954 (dem Jahr der letzten Aufführung der alten „Hänsel und Gretel“-Produktion) zurückgegangen, sondern gleich ins Jahr 1894. Heute drängt sich der Eindruck auf, einer Feier einer verlorenen Theatersprache beizuwohnen, etwas, was an unsere ersten Erfahrungen von Theater und Oper rührt, als wir noch Kinder waren. Das ist zugegebenermaßen eine rückwärtsgewandte, etwas melancholische Erfahrung einer verlorenen Erinnerung. Irgendwie „gegenaufklärerisch“. Man könnte einwenden, dass die Romane um Harry Potter und der „Herr der Ringe“ ein ähnliches Bedürfnis bedienen, und beide Buchzyklen (und die Filme) haben ungeheuren Erfolg. Doch da steckt wohl doch um einiges mehr an zeitgenössischer Kinderrealität drin, als die märchenhafte Filmbildwelt suggeriert.

Auch die böse Hexe erntet am Ende Applaus. (Foto: Joachim Thode )

Peter Beauvais scheint einem Bild in der Oper und dem Märchen der Brüder Grimm misstraut zu haben: der Verbrennung der Hexe im Ofen. Da scheiden sich die Geister: wieviel „Grausamkeit und Brutalität“ in Märchen nehmen wir hin, deuten sie deshalb um oder versuchen wir abzuschwächen, stets argumentierend, den Kindern solche Geschehen und Bilder nicht zumuten zu können – wenn doch um uns herum die brutalen Bilder aus der realen Welt, aus Film, Fernsehen, YouTube und Computerspielen im Übermaß Kinderseelen malträtieren. Andere, gestützt durch die Wissenschaft, sehen eher in der Überwindung und Bewältigung dieser Zumutungen durch die Kinder ein stärkendes und Kritik förderndes Element. Peter Beauvais und Jan Schlubach bauten dazu eine Szene, in der die Kinder sehen konnten, dass die Hexe zwar im Ofen verschwindet, so ihre gerechte Strafe erfährt und auch oben aus dem Schornstein Rauch herauskommt.

Doch der Auftritt des Sängers (oder der Sängerin) der Hexe zum Applaus, also die Verwandlung der Figur in die Privatperson geschieht nicht nach dem Fall des Vorhangs und im Licht des Applauses, sondern aus dem Ofen heraus. Die Botschaft soll sein: Ihr Kinder sollt nicht glauben, dass die Hexe „wirklich“ verbrannt wurde, sondern der Sänger / die Sängerin ist unversehrt. Alles also Theater. Unwillkürlich denkt man an Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“. Benignis Figur, der Vater eines Jungen, die beide in Italien im Lager der italienischen Faschisten interniert sind, erklärt seinem Jungen alle Vorgänge um ihn herum als Theater, wo alle, auch Vater und Sohn, eine Rolle spielen müssen. Mit Sicherheit ist Peter Beauvais’ Idee der Hexenverbrennung in seiner eigenen Biografie begründet. Das Ende des Faschismus in Deutschland war erst 27 Jahre her.

Johannes Blum (aus dem Journal #2 der Spielzeit 2019/20)

 

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