We don’t care what they say about us – Fucking Åmål – Unser kleines Scheißkaff

An Elin, Agnes, Johan, Jessica und Markus zerren Sehnsüchte, schiefe Selbstbilder, Vorurteile und Schulstress. Und dann verliebt man sich auch noch in ein Mädchen – als Mädchen!

„Fucking Åmål!“ – dieser Ausruf des Ekels, der Langeweile und hasserfüllten Überdrusses trifft ein kleines Städtchen in Südschweden am idyllischen Vänern-See, das noch nicht einmal 10.000 Einwohner zählt und tatsächlich existiert; und man fragt sich, ob der Gemeinderat der Nutzung des Städtenamens, dem der Film von Lukas Moodysson seinen Titel verdankt, zugestimmt hat, um mit Negativmarketing dem Städtchen aus seinem Dornröschen-Dasein herauszuhelfen. Einige Male wurde der Stoff für die Teaterbühne adaptiert, und jetzt gibt es eine Opern-Version, komponiert von Sam Penderbayne in der Regie von Alexander Riemenschneider, einem der neuen Intendanten des renommierten Kinder- und Jugendtheaters ‑ Theater an der Parkaue in Berlin. In Hamburg inszenierte er einige Male sehr erfolgreich am Jungen Schauspielhaus. Die Libretto-fassung stammt von Johannes Blum, Wieland Stanecker aka Blinker hat die Songtexte beigesteuert.

Wenn man der 15-jährigen Elin, einer der jugendlichen Protagonistinnen, glauben kann, ist die einzige lebensrettende Maßnahme, möglichst bald abzuhauen: nach Stockholm oder Malmö oder besser noch New York. Bloß weg aus unserem kleinen Scheißkaff Åmål! Jessica, Elins ältere Schwester, denkt da anders. Sie bereitet sich perfekt auf das dröge Leben, das sie erwartet, in vorauseilender Anpassung vor, indem sie mit Markus, der sich vor allem durch seine fußballerischen Fähigkeiten und seine unterkomplexen

Aussagen zu Beziehung, Saufen und „Schlampen“ hervortut, ein perfektes Pärchen bildet, das nicht zulassen wird, dass das Åmål-Image irgendwelche Flecken auf seiner weißen Weste der Gutbürgerlichkeit und Spießermoral abbekommt.

Elin ist lebendig, will etwas vom Leben und will es vor allem erleben. Das bringt ihr unter den weniger Mutigen, vor allem unter den Jungs, aber auch unter den Mädchen, die insgeheim ihre extrovertierte Art (vor allem wenn’s ums Rumknutschen geht) bewundern und deshalb erbarmungslose Mobbingenergien streuen, den Ruf der Schulmatratze ein. Elin und Jessicas Mutter ist vom Vater der Mädchen getrennt und schuftet im Wechsel von Tag- und Nachtschichten. Ihre Nerven liegen lank und es hagelt zu Hause oft Schimpfkanonaden. Agnes ist Außenseiterin. Sie ist still, hat kaum Freundinnen und läuft unauffällig mit. Ihr Vater ist sanftmütig, sentimental und unfähig, mit Agnes so zu kommunizieren, wie sie es dringend brauchen würde. Denn, wie wir sofort zu Beginn erfahren, ist sie heftig in Elin verliebt. Und das in Åmål!

Agnes versucht es noch einmal: Sie lädt zu ihrem Geburtstag ein. Das bekommt Elin mit, und mit Jessica macht sie sich den Spaß, bei Agnes aufzutauchen. Sie sind neben Viktoria die einzigen Gäste. Der Vater hat leckere Sachen gekocht und versucht, verzweifelt komisch und hilflos, Stimmung zu machen. Elin handelt nach ihrer Devise „Hauptsache, es passiert was“ und wettet mit Jessica, dass sie es schafft , dass Agnes und sie sich küssen. Was ihrgelingt. Der Kuss sagt Agnes, dass sie richtig liegt, Elin aber lässt er völlig verwirrt zurück. Sie wehrt sich gegen das, was nicht sein darf. Nach einigen Umwegen, Vorwürfen und einem Alibi-Verhältnis Elins mit dem treudoofen Johan haben beide den Mut, sich vor allen anderen zu ihrer Liebe zu bekennen.

Modell des Bühnenbilds von David Hohmann

Der 1969 geborene Lukas Moodysson, der Autor und Regisseur des Films, begann bereits sehr früh, Gedichte zu schreiben und sie auch zu veröffentlichen, bevor er am Dramatiska Insitutet, der nationalen Theater und Filmhochschule Schwedens, studierte. Nach einigen Kurzfilmen, die schon auf Festivals zu sehen waren, entstand 1998 der Film Fucking Åmål, der europaweit zahlreiche Preise erhielt. Moodysson schafft es in seinen Filmen immer wieder, sich in die Gefühlslagen von Jugendlichen hineinzuversetzen. Grandios, wie er in Fucking Åmål die Balance hält zwischen amüsanten Pubertäts-Verirrungs-Katastrophen im Setting von High School-Lovestories amerikanischer Prägung und ernstzunehmender, präzise erzählter Sozialstudie einer lesbischen Liebe in der schwedischen Provinz. Oder sein Film Lilja 4-ever. Einsame, alleingelassene, auf sich selbst gestellte Jugendliche müssen sich im postsowjetischen Russland der 90er Jahre viel zu früh im protokapitalistischen, regel- und gesetzlosen Kampf aller gegen alle behaupten. Die 16-jährige Lilja muss erleben, wie ihre Mutter mit ihrem Liebhaber abhaut. Sie schlägt sich mit Hilfe eines Schleppers nach Schweden durch, doch ihr Ausweis ist gefälscht, sie muss anschaffen und stürzt sich schließlich von einer Brücke. Beklemmend genau, ohne falsche Sozialromantik, erbarmungslos realistisch ist diese „Passionsgeschichte vom russischen Babystrich zur modernen Leibeigenschaft im schwedischen Sozialstaat“. (DIE ZEIT)

Fucking Åmål ist da leichter und hat „viel Herz“. Aber das Coming-out von Agnes und vor allem Elin ist ein existenzielles Problem, im Lichte der momentanen LGBTQ-Diskussionen, der #metoo-Bewegung und der Notwendigkeit tiefgreifen der Reformen von Machtstrukturen in Politik, Wirtschaft , Wissenschaft und Kunst trifft der vor über 20 Jahren entstandene Film einen heutigen Nerv.


The Young ClassX und die Staatsoper

Foto: Michaela Kuhn

Das Solistenensemble, das in Fucking Åmål – Unser kleines Scheißkaff auf der Bühne steht, ist einer von vielen Chören, die unter dem Dach von The Young ClassX entstanden sind, seit der Verein 2008 gegründet wurde. Prof. Dr. Michael Otto ist Gründer und Schirmherr des Projekts, das sich zur Aufgabe macht, in enger Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden und Schulen das Singen an Schulen zu fördern. Es ist mit der Zeit ein Netzwerk entstanden, in dem das Projekt The Young ClassX mit den Schulen konkrete Projekte erarbeitet und so die Arbeit und den Spaß nach außen sichtbar und hörbar macht. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass Singen, zunächst „nur“ eine künstlerische Betätigung, die großen Spaß macht, auch für die Stärkung und den Zusammenhalt eines Gemeinwesens eine ungemein große Rolle spielt – letztlich also auch eine politisch-soziale Rolle. 2016 gab es erste gemeinsame Konzerte von The Young ClassX mit dem Opernstudio der Staatsoper im Mojo Club an der Reeperbahn und eine erste gemeinsame Opernproduktion, inszeniert von Georges Delnon und dirigiert von Kent Nagano: Erzittre, feiger Bösewicht! orientierte sich an der Mozart ̓schen Zauberflöte, die speziell auf ein jugendliches Publikum hin in einer gekürzten, mit neuen Texten ausgestatteten Version neu konzipiert wurde. Klar, dass die Geschichte im heutigen Hamburg spielte. Danach waren alle Beteiligten sich einig, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Fucking Åmål, das in Georges Delnons Intendanz am Teater Basel herauskam, gespielt vom Jugendclub des Theater Basel in der Inszenierung von Sebastian Nübling, bot sich als Stoff für eine Jugendoper an. Sam Penderbayne, ein junger australischer Komponist, Gewinner des Dissertations- und Kompositionsstipendiums der Claussen-Simon-Stiftung, hatte 2018 mit I.th.Ak.A. in der opera stabile Premiere und ist ein reger junger Musiker, stets interessiert an genreübergreifenden Formaten und Musikformen.