Hummel Hummel – Mors Mors: Tenor trifft Casting-Direktorin
Erleben Werte heute einen Bedeutungsverlust? Welche Relevanz haben sie im Stück „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“? Wie fühlt sich Heimat an? Worin kann sich Schaffensgeist äußern und wer können mögliche Adressatinnen und Adressaten sein? Wir sind diesen Fragen nachgegangen und haben zwei Menschen befragt, die relativ neu in Hamburg, bzw. an der Staatsoper sind: Unsere Casting-Direktorin Annette Weber und den Tenor Fabio Trümpy, der in der Rolle des Telemaco sein Hamburg-Debüt gibt.
Monteverdis Oper „Il Ritorno d‘Ulisse in Patria“ ist knapp 380 Jahre alt, Homers „Odyssee“ bereits fast 3000 Jahre – worin besteht noch heute die Aktualität der Oper?
Fabio: Ich denke, die Aktualität des Stücks besteht in der Notwendigkeit der Aufführung, schließlich werden die ganz wichtigen Lebensfragen hier gestellt. Ich hatte vor wenigen Tagen das Glück, das „Verdi-Requiem“ hier am Haus erleben zu dürfen und habe mir die Einführung angehört, in der es darum ging, dass in unserer Gesellschaft der Tod so gut wie möglich umgangen wird. Wir meiden ihn, da wir Angst vor ihm haben und probieren ihn zu vergessen, es ist jedoch wichtig, nicht auszuweichen. Bereits im Prolog von „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“ stellt sich die Frage: „Wie gehe ich damit um, dass ich mein Schicksal nicht in den Händen habe?“ Die einzige Entscheidung, die wir selbst treffen können, ist: „Ich gebe nicht auf!“ – genauso wie Ulisse.
Annette: Das Schöne an all den Opern, die wir im Repertoire haben, ist, dass es essenzielle Themen sind, die immer aktuell sein werden: die Liebe, der Tod, die Hoffnung, der Glaube, das Ziel vor Augen – all das ist nie altmodisch. Man muss sich auch einmal die Muße nehmen, sich ein unbequemes Thema anzueignen. Ein Beispiel ist auch Penelope, die die ganze Zeit über Männer um sich hat, die sie nur anbaggern wollen. Sie aber sagt: „Nein, ich bin treu, ich warte auf meinen Gatten!“ Es geht um Werte. Ich finde es sehr schön, dass gerade Werte, die heutzutage vielleicht an Relevanz verlieren, auf der Opernbühne thematisiert werden.
Odysseus sieht seine Ehefrau Penelope und seine Heimat Ithaka über 20 Jahre nicht. Was bedeutet der Begriff Heimat für euch?
Annette: Für mich ist Heimat dort, wo ich aufgewachsen bin, wo meine allerersten Erinnerungen anfangen, wo ich angefangen habe zu denken, zu fühlen und wo meine Familie ist. Der Begriff „Heimat“ ist für mich sehr mit Erinnerungen, Orten, Menschen und gewissen Zeiten bzw. Lebensabschnitten verbunden. Ich komme ursprünglich aus Karlsruhe und als ich in Berlin gewohnt und gearbeitet habe, wurde Berlin zu meiner Heimat. Durch die Erfahrungen aus dieser „wilden“ Zeit, habe ich eben auch extreme Heimatverbindungen zu Berlin. Meine letzten fünf Jahre in Dresden waren auch Heimat für mich, da es ein neuer Lebensabschnitt mit neuen, wichtigen Menschen war. Hamburg wird sicherlich auch meine Heimat werden.
Fabio: Ich bin in der italienischen Schweiz aufgewachsen, also in einem italienisch-kulturellen Umfeld. Mein Vater kommt jedoch aus Turin und meine Mutter aus Berlin. Sie haben sich in der Schweiz kennengelernt, wo ich geboren wurde. Ich habe dort zwar Wurzeln, und wann immer ich Italienisch sprechen kann, fühle ich mich sofort wie zuhause, jedoch habe ich in meiner Kindheit immer das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören, da ich den Dialekt des Ortes nicht sprach und mit der deutschen Kultur erzogen wurde. Mir wurden beispielsweise von meiner Mutter deutsche Kinder- und Weihnachtslieder vorgesungen. Ich wohne nun seit fast achtzehn Jahren in Amsterdam und habe dort inzwischen neue Wurzeln geschlagen, aber obwohl ich die Stadt, das Wasser, die Kanäle, diese wunderschönen Fassaden und die Architektur liebe, muss ich jeden Sommer wieder in die Berge, um die unberührte wilde Natur zu erleben – darin erkenne und vermisse ich meine Heimat am meisten.
Nehmen wir an, ihr seid, wie Monteverdi bei der Komposition von „Ulisse“, 74 Jahre alt und habt noch einmal einen riesigen Kreativitätsschub – worin würde sich dieser äußern?
Fabio: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich habe mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht (lacht); ich bin leidenschaftlicher Motorradfahrer und Taucher. Ich hoffe, dass ich mein im Laufe des Lebens gesammeltes Wissen weitergeben kann. Aus Spaß habe ich mit einer Reiki-Ausbildung angefangen und habe gemerkt, dass ich mit meinen zwei Händen ganz verblüffende Resultate erzeugen und Menschen helfen kann. Das war etwas ganz Neues für mich. Es gibt mir ganz viel Motivation, in diese Richtung weiter zu suchen und vielleicht irgendwann ein Therapeut zu werden. Durch solche Neuentdeckungen weiß man eben nicht, was in zehn Jahren oder mehr sein wird, und irgendwann merkt man, dass man vor zwanzig Jahren genau das Gegenteil gedacht hat. Geschmäcker, Vorstellungen, Wünsche und Ideale verändern sich eben ständig, daher kann ich die Frage nicht genau beantworten. Ich hoffe allerdings, dass ich in dem Alter noch etwas geben kann, beispielsweise für die nächste Generation.
Annette: Ich werde mich nicht in ein Zimmerchen setzen und etwas komponieren oder mich vor eine Staffelei setzen und etwas malen. (lacht) Ich stelle mir das eher so vor, dass ich mit den Leuten, die mich bisher begleitet haben und die mir wichtig waren, eine Riesenfete mit einem opulenten Mahl organisiere. Dort könnte man dann gemeinsam kreativ sein, rumspinnen und die Welt verbessern – in dem Maße, wie es einem mit 74 noch möglich ist. Generell stellt das Zusammenbringen von Menschen für mich auch einen kreativen Prozess dar, bei dem ganz neue Dinge entstehen. Mit 74 Jahren ist es auch möglich, die nächste Generation von Künstlern an die Hand zu nehmen und das gesammelte Wissen weiterzugeben. Ich finde es sehr wichtig, offen zu bleiben und den Spaß an der Sache zu bewahren.
Fondue oder Raclette?
Annette: Raclette! (lacht)
Fabio: Fondue! (lacht)
Buch oder Kindle?
Fabio: Definitiv Buch. Ein Buch hat für mich noch eine Seele. Lieblingsbücher sind häufig die besten Freunde im Leben, da sie dich in einem gewissen Abschnitt begleiten – Dinge, die du in diesen Büchern findest, können dich auch enorm weiterbringen. Ich möchte diese Bücher auch gerne in meinem Schlafzimmer im Bücherregal stehen haben, so dass ich sie bei Gelegenheit wieder in die Hand nehmen und fühlen kann. Das ist ein total haptisches Verhältnis. Ein Kindle ist zwar praktisch, aber nachdem man den ganzen Tag auf Bildschirme geschaut hat, ist Papier zum Lesen einfach angenehmer. Schlicht und einfach: Ein Buch ist noch etwas Echtes.
Annette: Buch. Durch die vielen Eselsohren und Lesezeichen aus Restaurantquittungen, Einkaufszetteln oder Zugfahrkarten erzählt ein Buch beim erneuten „In-die-Hand-Nehmen“ noch eine ganz andere Geschichte aus dem Leben. Ich mag es nicht, Dinge am Bildschirm zu lesen – auch im Büro drucke ich mir wichtige Dokumente immer aus. Zudem habe ich eine Art „Buch-Amnesie“ – ich kann Bücher fünf Mal lesen und bin immer wieder auf die Handlung gespannt. (lacht) Gerade dann ist es schön, das Buch wieder in die Hand zu nehmen und zu sehen, wo man es überall schon dabei hatte. So etwas bleibt mir viel mehr in Erinnerung als das Buch an sich.
Ski- oder Strandurlaub?
Annette: Skifahren kann ich zwar nicht, aber Urlaub in den Bergen ist schon gut. Also quasi Skiurlaub ohne Schnee.
Fabio: Berge sind für mich sehr wichtig, allerdings war ich meine gesamte Jugend lang Skifahren. Seitdem ich in Amsterdam wohne, habe ich ein Bedürfnis nach Sonne – also eher an den Strand, ans Wasser, ans Meer.
Frage von Fabio an Annette: Wie wurdest du Casting-Direktorin? Wie und nach welchen Kriterien wählst du als solche die Sänger aus?
Annette: Ich war fast zwanzig Jahre lang Regieassistentin und war in diesem Zuge lange die persönliche Assistentin des norwegischen Regisseurs Stefan Herheim, mit dem ich viel herumgekommen bin. Als Stefan für zwei Jahre Pause gemacht hat, habe ich mich bei verschiedenen Opernhäusern nach freien Stellen erkundigt und wurde so persönliche Assistentin des Betriebsdirektors in der Semperoper Dresden. Und da ich durch die Arbeit mit Stefan in ganz Europa viele Sängerinnen und Sänger sowie ihr Niveau und ihre Arbeitsweise kannte, konnte ich viele von ihnen für Produktionen vorschlagen. Meine Vorschläge haben großen Anklang gefunden und dadurch bin ich zu meinem jetzigen Job gekommen.
Die erste Grundlage ist natürlich die Qualität des Gesanges. Wichtig sind für meine Auswahl natürlich auch die Präferenzen des Dirigenten: Mit wem kann er gut arbeiten, mit wem hat er schon gearbeitet, was hat er für einen Stil? Dann schaue ich mir den Regisseur an: Wodurch kennzeichnen sich seine Inszenierungen und was steht im Vordergrund? Dadurch wird gewährleistet, dass nicht schon vom ersten Tag an zwei Welten aufeinander prallen – die persönliche Ebene ist eine der wichtigsten Kriterien für meine Auswahl. Es ist unvermeidbar – und manchmal auch notwendig –, dass es mal „knirscht“, allerdings gibt es nichts Schlimmeres als furchtbare, konfliktreiche Probenwochen zu durchlaufen. Ich versuche, kreativ Besetzungen zu vergeben und somit zu gewährleisten, dass es für Dirigenten, Regisseure und Publikum eine gelungene Zusammensetzung ist.
Frage von Annette an Fabio: Nachdem Odysseus nach all den Jahren zurückkehrt, erkennt seine Frau ihn nur an einem markanten Detail wieder. Meine Frage ist: was ist eine Eigenart von dir, an der man dich sofort erkennt?
Fabio: Ich habe schon oft gehört, dass ich sofort an meinem Lachen erkannt werde. Das ist das markanteste Merkmal bei mir, das mir als erstes einfällt. Ich werde als Telemaco in einer Bühnenszene auch versuchen, mein Lachen mit Überzeugung zum Besten zu geben! (lacht)
Fabio Trümpy
Der Schweizer Tenor Fabio Trümpy studierte Anglistik an der Universität Zürich und Gesang an den Musikhochschulen in Zürich und Amsterdam sowie am Opera Studio Nederland. 2007 erhielt er den Prix des Amis du Festival d’Art Lyrique in Aix-en-Provence. Er war Mitglied des Opernhauses Zürich und gastierte an Opernhäusern in der Schweiz sowie in den USA, Frankreich, Niederlande, Russland, Italien und Deutschland. Zu seinen bedeutenden Partien zählen: Don Ottavio (Don Giovanni), Tamino (Die Zauberflöte), Ferrando (Così fan tutte), Fenton (Falstaff), Camille (Die lustige Witwe), Fritz (La Grande-Duchesse de Gérolstein), Steuermann (Der fliegende Holländer), Oronte (Alcina) und die Titelpartie des Prometeo in der Uraufführung von El Prometeo (Draghi/Alarcón) in 2018. An der Hamburgischen Staatsoper gibt er in der Rolle des Telemaco sein Hamburg-Debüt.
Annette Weber
Annette Weber entdeckte bereits während ihrer klassischen Tanzausbildung ihre Begeisterung für das Musiktheater. Neben dem Studium der Theater- und Musikwissenschaft sammelte sie diverse Erfahrungen als Spielleiterin und Regieassistentin, u. a. am Badischen Staatstheater Karlsruhe, der Staatsoper Unter den Linden und den Internationalen Musikfestspielen in Istanbul (2006). Von 2010 bis 2013 war sie nach langen Jahren der Zusammenarbeit die persönliche Assistentin des Opernregisseurs Stefan Herheim. Ihre erste eigene Regiearbeit zeigte sie 2014 in Karlsruhe mit Oliver Knussens Kinderoper „Wo die wilden Kerle wohnen“. An der Semperoper Dresden war sie Referentin des Künstlerischen Betriebsdirektors, an der Hamburgischen Staatsoper ist sie seit Beginn der Spielzeit 2018/19 als Casting-Direktorin engagiert.