Anna Prohaska

Auf einen Schnack mit: Anna Prohaska

Anna Prohaska gibt als Mélisande in Willy Deckers Inszenierung von Claude Debussys einzig vollendeter Oper „Pelléas et Mélisande“ ihr Hausdebüt. Im Interview spricht die Sopranistin unter anderem über ihre ganz persönliche Geschichte zu dieser Partie und über ein besonders aufregendes Erlebnis in Hamburg.

Am 15. November debütieren Sie an der Staatsoper Hamburg in Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ als Mélisande. Was bedeutet diese Rolle für Sie? Haben Sie eine besondere Beziehung zum französischen Repertoire oder zu Debussy?

Anna Prohaska: Da muss ich ein wenig weiter ausholen. Mit 17 sang ich am Theater am Halleschen Ufer in Berlin meine erste Opernrolle überhaupt, den Yniold, in einer Inszenierung von Jörn Weisbrodt. Das ist jetzt fast 20 Jahre her. Seitdem bin ich besessen von „Pelléas et Mélisande“ und habe lange auf die Gelegenheit gewartet, die Titelpartie zu singen und freue mich darauf, sie hier in dieser legendären Inszenierung von Willy Decker zu verkörpern. Die Mélisande ist ein sehr geheimnisvolles Wesen, sie hat keine großen Arien oder Monologe. Außer dem kurzen a cappella Gesang am Anfang des 3. Aktes, antwortet sie meist nur auf die drängenden Forderungen der Menschen um sie herum. Man kann sie als waidwunde Elfe der neo-mittelalterlichen Bewegung des Jugendstils mit einer tiefen Wahrheit und einem unergründlichen Geheimnis aus dem Wald sehen – aber was meinten Maeterlinck und Debussy damit? Ist sie nicht vielleicht die Verkörperung der Frau als Besitzgegenstand des Mannes, hier im Mittelalter, aber genauso in der Belle-Epoque, so wie auch gewisse Gesellschaftsstrukturen heute noch gelten? Sie konnte gerade aus den Klauen dessen entfliehen, der ihr die Krone gab (Blaubart?), wird aber gleich vom nächsten Mann, dem Prinzen Golaud, letztendlich gegen ihren Willen mitgenommen und geheiratet. Er sieht Mélisande schließlich auch als Befreiungsschlag, den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Zwangsheirat zu entfliehen. Sein Großvater König Arkel hätte sich nämlich eine Prinzessin, eine bessere Partie, für ihn gewünscht. Es geht aber Golaud letztendlich immer nur um sich selbst, sein Begehren, seine unkontrollierbare Eifersucht, sein Selbstmitleid für das, was er eigentlich ihr angetan hat. Auch Pelléas, Golauds jüngerer, verträumter Halbbruder, spricht die ganze Zeit von seinen Gefühlen für Mélisande, was sie in IHM auslösen, wie ER sich dabei fühlt. Aber es geht niemandem wirklich um sie als Persönlichkeit oder um ihre innerlichsten Wünsche. Sie muss eine Funktion erfüllen, und sobald sie das nicht tut, wird sie mit Gewalt zum Gehorsam gezwungen und letztendlich gebrochen. Meiner Meinung nach sehnt sie sich nach Freiheit, bei Maeterlinck durch Licht und Sonne in dieser nebligen, trüben, von Alter, Krankheit und Tod geplagten Schlosswelt symbolisiert. Und Pelléas kann ihr ein Fenster zur Freiheit für einige wenige kurze Momente öffnen.
Generell finde ich, dass sich französische Musik erst einmal etwas langsamer lernen lässt, da meist syllabisch komponiert wird, von Rameau bis Poulenc, und daher besonders viel Text zu merken ist. Allerdings sitzt, von meinem Gefühl her, durch die vielen, weichen Konsonanten und Nasallaute die Stimme besonders gut, eher vorne und nicht so sehr im Hals wie im Deutschen oder im Englischen. Ich liebe das französische Repertoire sehr, habe bisher viel Debussy im Lied- aber auch Konzertbereich gesungen, letzthin mehrmals die Oratorien „Le Martyre de Saint Sébastien“ und „La Damoiselle élue“.  Für mich ist „Pelléas et Mélisande“ jedenfalls eine der Top Five-Opern im Repertoire, zusammen mit „Le Nozze di Figaro“.

Anna Prohaska

Anna in Kostüm vor einer „Pelléas et Mélisande“-Probe

Sie sind in der Vorstellung von „Le Nozze di Figaro“ am 5. November spontan als Susanna eingesprungen – wie war dieses Erlebnis? Und wie würden Sie die Partien vergleichen?

Anna Prohaska: Das war eine verrückte Geschichte. Ich saß gerade während einer Probenpause im Betriebsbüro, um meine Karten zu organisieren, da kam plötzlich die Absage der mittlerweile zweiten Sängerin der Susanna für denselben Abend. Es waren noch sieben Stunden bis zur Aufführung, ich musste noch eine Bühnenprobe für „Pelléas et Mélisande“ beenden und hatte die Rolle seit über einem Jahr nicht mehr angeschaut. Es war klar, dass die fantastische Spielleiterin Birgit Kajtna, die mit mir schon die Wiederaufnahme meiner Susanna in Salzburg 2016 einstudierte, die Rolle auf der Bühne spielen würde, und ich vom Graben aus singen würde. Natürlich waren alle gespannt darauf, wie das bei einer solchen Spielpartie funktionieren würde. Mit dem Dirigenten Riccardo Minasi hatte ich ungefähr eine Stunde Zeit zu proben, was hinten und vorne nicht reicht, um diese längste aller Sopranpartien einmal durchzusingen – und er hat ganz genaue gestalterische Vorstellungen. Wir haben uns musikalisch spontan irrsinnig gut verstanden. So viele Temposchwankungen und Überraschungseffekte hatte ich bisher nur mit Nikolaus Harnoncourt erlebt – also ein wahrer Erbe dessen Theorie der „Klangrede“. Das Stück hat gelebt, geatmet, hat uns alle und das Publikum ganz nah am Text entlang in Atem gehalten. Gleichzeitig habe ich versucht, zumindest in den Rezitativen und den wenigen Gesangspausen etwas auf das Bühnengeschehen hinter mir zu achten, beispielsweise nicht einzusetzen, bevor Birgit wieder zur Tür hereingekommen war. Eine Achterbahnfahrt, die einen riesigen Spaß gemacht hat!
Von den Rollen her könnten Susanna und Mélisande unterschiedlicher nicht sein. Gemeinsam haben sie, dass sie stimmlich eher in der Mittellage angesiedelt sind, man nicht mit Spitzentönen und virtuosen Koloraturen blenden kann, sondern eher die Farben in den Zwischentönen und anhand des Textes suchen muss, ähnlich wie im Liedgesang. In beiden Stücken stehen diese Hauptrollen die ganze Zeit auf der Bühne, die Handlung dreht sich um sie, allerdings singt die Susanna exponentiell mehr Töne als die Mélisande. Das ist eine ganz unterschiedliche Herausforderung. Mélisande ist eher ein Opfer, sie ist isoliert, fragt zaghaft oder antwortet, anstatt zu fordern. Susanna ist die Spielmacherin, eine Manipulatorin, aber mit Herz. Sie schafft es, sich immer wieder aus den Fängen des Grafen zu winden. Sie weiß genau, wer ihre Feinde sind, sucht sich aber auch Verbündete wie die Gräfin. Die Mélisande hat keine solche Freundin in diesem kalten, feindseligen Schloss.

Sie haben eine atemberaubende Karriere gemacht und sind an den bedeutendsten Häusern und Festivals aufgetreten, haben eine Vielzahl an Preisen und Auszeichnungen erhalten. Wie ist es für Sie, so viel unterwegs zu sein? Haben Sie ein besonderes „Rezept“ für die Stimme und dafür gesund zu bleiben?

Anna Prohaska: Wissen Sie, ich frage mich wirklich, wann endlich der Wunderimpfstoff gegen alle Erkältungskrankheiten entwickelt wird. Nicht nur gegen einen oder zwei Virenstränge pro Jahr. Die Pharmaindustrie verdient jedenfalls genug daran, dass es diesen noch nicht gibt! Sagen wir, ich tue, was ich kann, ohne dabei in Hysterie auszuarten. Eine Infektion kann die 100%ige Leistung auf der Bühne verhindern. Viele Menschen unterschätzen den physischen und psychischen Druck, dem wir Sänger uns mit dieser Berufswahl aussetzen, ähnlich wie im Leistungssport. Zusätzlich zu den doch schwer zu definierenden und geschmacklich so variierenden künstlerischen Ansprüchen der „Szene“, des „Publikums“, der „Kritik“. Mit der Zeit lerne ich immer mehr dazu, beispielsweise meine Wohnsituation so auszuwählen, um gut schlafen zu können. Mir geht es nicht um Luxus, das Zimmer muss ruhig, abzudunkeln und die Klimaanlage abschaltbar sein. Reisen am Konzerttag sind, wo es geht, zu vermeiden. Notfalls kann deshalb ein Projekt nicht angenommen werden. Das bricht einem in dem Moment das Herz, aber nachher dankt es einem die Gesundheit. Die generellen Ratschläge schaden nicht: gründliches Händewaschen, ausgewogene Ernährung, aber auch warm eingepackt viel rausgehen an die frische Luft, sich mit Sauna, Fahrradfahren und Laufen abhärten, aber nicht direkt vor dem Singen. Ich habe auch gemerkt, wie viel es bringt, nicht nur einmal im Jahr einen längeren Urlaub zu machen, sondern auch zwischen schweren Projekten ein paar Tage einfach mal wegzufahren – ob es an die Ostsee oder nach Kreta ist. Die Seeluft einfach mal die Lungen richtig durchpusten lassen. Zu Hause fällt so viel Alltagskram an, Studium und Korrepetition neuer Stücke, Papierkram, Handwerker – aber natürlich auch Freunde und das Sozialleben, was letztendlich auch anstrengend für die Stimme und die Kondition werden kann. Das ist so diese ganz komplizierte Balance, die wir Sänger auch in den Freizeiten einhalten müssen. Zwischen dem dionysischen und apollinischen Teil des Lebens vielleicht… Ohne ein durchdiskutiertes Abendessen, einen durchlachten Kinoabend, oder ab und zu eine durchtanzte Nacht mit Freunden wäre ich auf der Bühne ein 0815-Abziehbild und kein glücklicher Mensch. Dann braucht man allerdings Zeiten, in denen man die Stimme und Seele so richtig „baumeln“ lassen kann.

Pelléas et Mélisande

Foto: Jörn Kipping

Pelléas et Mélisande

Foto: Jörn Kipping

Pelléas et Mélisande

Foto: Jörn Kipping

Wie ist es für Sie, wieder in Hamburg zu sein?

Anna Prohaska: Als Hausdebütantin ist es für mich das erste Mal, für eine längere Periode hier zu sein. Von Berlin kam ich bisher vereinzelt für einen privaten Kurztrip oder ein Konzert, zum Beispiel in der Laeiszhalle oder der Elbphilharmonie, vorbei. Es ist großartig, den Alltag in dieser Stadt zu verbringen, die verschiedenen Kieze außerhalb des Zentrums kennenzulernen. Jetzt hatte ich gerade ein traumhaftes freies Wochenende, wo sich Hamburg wirklich von der Sonnenseite gezeigt hat. Da konnte ich endlich die Touristin sein. Ich war im bewegenden Mahnmal St. Nikolai und auf dem Turm, in den Deichtorhallen, habe mir ein Stück im Schauspielhaus angeschaut… Es gibt hier so viele Möglichkeiten. Vor allem mit dem Fahrrad macht es Spaß, Hamburg zu entdecken.
Ich habe mich auch sehr gefreut, dass die Wiederaufnahme von „Pelléas et Mélisande“ so gründlich und dennoch frisch und auf uns Individuen zugeschnitten auf die Bühne gebracht wird. Das ist vor allem dem wunderbaren Spielleiter Heiko Hentschel zu verdanken, der Simon, Rolando und mir Willy Deckers Vision nicht als Korsett, sondern als Landkarte mit festen Orientierungspunkten eröffnet, die Wege müssen aber wir mit unseren Persönlichkeiten durchschreiten. Jetzt freue ich mich erst einmal auf das Orchester, welches von einer Japan-Tournee mit Kent Nagano wiederkommt!

 


 

Anna Prohaska Foto: Harald Hoffmann

Foto: Harald Hoffmann

Anna Prohaska
Die deutsche Sopranistin Anna Prohaska studierte Gesang an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin und gehört heute zum Ensemble der Berliner Staatsoper. Sie gastiert an zahlreichen großen Bühnen, darunter das Teatro alla Scala in Mailand, Royal Opera House Covent Garden London und die Opéra National de Paris. Auch beim Festival d’Aix-en-Provence und den Salzburger Festspielen stand sie schon auf der Bühne. Sie brachte zudem zahlreiche Aufnahmen heraus, für die sie mit Preisen wie dem ECHO Klassik geehrt wurde. In der Saison 2019/20 debütiert sie als Mélisande in „Pelléas et Mélisande“ an der Hamburgischen Staatsoper.