Aus dem Beet auf die Bühne
Vom überraschenden Debüt eines Suppengemüses
Auf Opernbühnen kommt es schon mal vor, dass das Publikum sich mit dem ein oder anderen faszinierenden oder schockierenden Requisit konfrontiert sieht. Ob eine magische Flöte mit Zauberkräften, ein unsichtbar machender Tarnhelm oder ein abgetrennter Kopf auf einem Silbertablett – Opernfans haben all diese berühmten Requisiten und ihre vielfältigen Eigenschaften lieben gelernt. Was wäre schließlich aus Tamino und Pamina geworden, wenn sie nicht eifrig auf ihrer Zauberflöte gespielt hätten?
Mit der Produktion „immer weiter“ in der opera stabile erobert sich nun ein Requisit die Bühne, das so wohl noch niemand gesehen hat. Zentraler Gegenstand des Stückes ist kein magisches Musikinstrument oder ein abgeschlagenes Körperteil der Beteiligten. Stattdessen beschäftigen sich die Darstellenden mit einem Lebensmittel, das wohl in fast jedem Kühlschrank zu finden ist: dem Knollensellerie.
Dieses eher unscheinbare und nicht unbedingt attraktiv anmutende Gemüse ist zugegebenermaßen nicht das erste, was einem beim Gedanken an die Oper und ihre Musik in den Sinn kommt. Und doch nimmt der Sellerie bei „immer weiter“ eine elementare Rolle in der Entwicklung des Stücks ein.
Während die sieben Sängerinnen und Sänger in einer Art absurden Alltagstrott gefangen scheinen und jeder in seiner eigenen Vorstellung von Realität verloren wirkt, schafft der Auftritt des Selleries, was die Personen einzeln nicht vermögen: Er eint die Gruppe der Vor-sich-hin-Lebenden und gibt ihnen eine Beschäftigung, die den Ausbruch aus der tödlichen Eintönigkeit des Alltags verspricht.
Dabei tritt der Sellerie in jeder Form und Facette auf, die er zu bieten hat: Mal wird er – zu kleinen Stücken verarbeitet – in verfremdeter Form zum Gegenstand wichtiger Rituale. Dann wiederum dient er, in Scheibchen geschnitten, als Rohstoff zur Schaffung einer Utopie, die zumindest vorübergehend ein Entkommen aus dem lähmenden Alltag verspricht. Dabei eint der Prozess dieser Schaffung die Sängerinnen und Sänger erstmals als eine gemeinsam agierende Gruppe. Auch im Ganzen erscheint der Sellerie und verursacht durch seinen forschen Auftritt einen Bruch dessen, was sich zwischen den Darstellern als Routine eingespielt hat.
Wer nun glaubt, nur optisch mit dem Sellerie konfrontiert zu werden, der liegt falsch. Tatsächlich ist der Auftritt des Gemüses ein Erlebnis der Sinne und bleibt so für den Zuschauer nicht nur eindimensional. Zusätzlich zur szenischen Darstellung des Selleries kann man ihn auch in der Musik wiederfinden. So heißt es im Text eines Stückes immer wieder „Apium graveolens rapaceum“. Was zunächst klingt wie die hochtrabende Feststellung eines Gelehrten, ist doch nicht mehr als der lateinische Name für die Gattung des Knollenselleries. Wie ein Mantra wiederholen die Figuren diese drei Worte und klammern sich regelrecht daran, als würden sie ihnen Halt bieten.
Neben der akustischen und optischen Darstellung gibt es sogar die theoretische Möglichkeit für den Zuschauer, eine taktile Sellerie-Erfahrung zu machen: Da Bühne und Publikum nicht wie üblich voneinander getrennt sind und es sich hier um eine Art des Raumtheaters handelt, braucht das Publikum nur das Bein auszustrecken – und befindet sich plötzlich mit einem Fuß in der frisch geschaffenen Sellerie-Utopie.
Da man aber in der Regel während der Aufführung mit Zuschauen beschäftigt beziehungsweise so rücksichtsvoll ist, den Darstellenden während ihres Spiels kein Bein zu stellen, bietet sich auch die Möglichkeit, die Sellerie-Reste danach ihrer ursprünglichen Bestimmung zuzuführen und daraus eine Bolognese oder eine Gemüsesuppe zu machen.
Schließlich handelt es sich um ein Requisit, das in seiner Wichtigkeit kaum weniger bedeutungsvoll als eine Zauberflöte oder eine Tarnkappe ist, aber doch wesentlich leichter ersetzt werden kann.
Ein solcher Imagewandel vom eher unterschätzten Suppengemüse zum emanzipierten Requisitenstar einer Operninszenierung spricht doch sehr für die Vielseitigkeit des Selleries und macht definitiv neugierig auf dieses Debüt der etwas anderen Art.
Josefine Schäfer, Dramaturgiehospitantin „immer weiter“