Carl Orff: Trionfi

Orff stand auf einer alten Mauer in Mykenä in einem schwarzen Mantel. Ein starker Wind wehte, es war ein trüber Tag. Da begriff ich: Orff, daher kommst du! Griechenland ist deine Welt, finstere Welt. Orff sollte eigentlich 2500 Jahre früher geboren sein, dahin gehörte er. Aber er ist im katholischen, barocken Bayern geboren. Das ist doch eine gewaltige Spannung: Orff gehörte hierhin und er gehörte dorthin. Und er gehörte nirgendwohin.“
Das erzählte Carl Orffs dritte Ehefrau, die Schriftstellerin ­Luise Rinser, von einer gemeinsamen Reise nach Griechenland. Orff (1895–1982) fühlte sich der griechischen Antike, der Wiege der euro­päischen, der abendländischen Kultur, ihrem Geist und ihrem Theaterverständnis tief verbunden. Ihn interessierte das Kultische, das Körperliche, das Erotische für seine Musik und sein Musiktheater – das „Erdnahe und Naturhafte“, wie er es selbst nannte. Der Komponist wollte ein Gesamtkunstwerk als innere Einheit von Musik, Sprache und Bewegung entwickeln, was er stofflich in einer Rückbindung an die Kultur des Altertums und deren Nachhall im deutschen Mittelalter verwirklichte. Während Orff die anderen musikalischen Strömungen seiner Zeit wenig interessierten, prägte ihn vielmehr seine Beschäftigung mit Alter Musik. Er studierte Bach, Buxtehude und Pachelbel und erstellte deutsche Bearbeitungen von Werken seines Lieblingskomponisten Claudio Monteverdi für das Theater.
Mit Carmina Burana, seinem populärsten Werk und bis heute größten Erfolg, hat Orff seinen persönlichen und in der Musik des 20. Jahrhunderts einzigartigen Stil gefunden. Kaum bekannt ist hingegen, dass der Komponist Carmina Burana mit zwei weiteren Musiktheater-Werken zu einem ‚Trittico teatrale‘ geformt hat. In Hamburg gibt es nun die äußerst seltene Gelegenheit, alle drei Stücke, die Trionfi, zusammen auf der Bühne zu erleben.

Foto: Hildegard von Bingen/Wikipedia

Als Orff 1934 ein Buch mit Handschriften lateinischer und mittelhochdeutscher lyrischer Dichtung aus dem 13. Jahrhundert – benannt nach ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort im Kloster Benediktbeuern – als „Carmina Burana“ kennenlernte, war er sofort begeistert: „Beim Aufschlagen fand ich gleich auf der ersten Seite die längst berühmt gewordene Abbildung der Fortuna mit dem Rad. Darunter die Zeilen: ,O Fortuna, velut luna, statu variabilis‘ (,O Fortuna! Wie der Mond so veränderlich‘). Bild und Worte überfielen mich.“
Bei Orff werden diese Worte zu einem leidenschaftlichen Klageschrei über die wechselhaften, unberechenbaren Launen der Glücksgöttin Fortuna, welcher die Carmina Burana eröffnet. Deshalb gälte es, das Leben jetzt in vollen Zügen zu genießen. Sinnenlust statt Seelenheil! Macht das Leben zum Fest und gebt euch allen irdischen Vergnügungen hin. Sehnsucht, Verlangen, Liebe sind schön, auch wenn sie uns leiden lassen. In einer Arie darf selbst der Schwan auf dem Bratrost zu Wort kommen. Schon arg verbrannt, klagt er und denkt an glücklichere Zeiten zurück.
Die Uraufführung der Carmina Burana im Jahre 1937 in Frankfurt war zunächst umstritten, da die sprachliche Mischung aus Latein, Mittelhochdeutsch und mittelalterlichem Französisch nicht ins Konzept der Nationalsozialisten passte und ihnen Orffs Musik mit ihren fremdartigen Harmonien und Rhythmen suspekt war. Doch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das Werk zu einem fantastischen Erfolg und an vielen Orten in ganz Deutschland aufgeführt.
Welche Rolle Carl Orff in der Nazi-Zeit gespielt hat, ist in der jüngeren Forschung neu beleuchtet worden. Ohne sich in Urteilen über Orffs Verhältnis zu den faschistischen Machthabern zu ergehen, wie sie ‚die Nachgeborenen‘ so leicht fällen können, hat die Forschung klargestellt, dass der Komponist nach 1945 einige Legenden über sich und sein Werk konstruiert hat, um sein Mitläufertum in den finsteren Jahren zu verschleiern. So behauptete er zum Beispiel, seine Carmina Burana wären bis 1940 absolut verboten gewesen und im gesamten Land für „unerwünscht“ erklärt worden – was Orff im Nachhinein zum Opfer der Nazis stilisieren sollte.
„Als einziger der im Nazideutschland prominenten Komponisten hat Orff aus dem von der Obrigkeit erwünschten Verzicht auf Experiment und Konstruktivität, auf Schock, Atonalität und Amoralität eine eigene Ästhetik entwickelt“, analysiert Ulrich Schreiber in seiner großen Operngeschichte. Orff reduzierte das Musik­theater auf elementare Bestandteile und verweigerte seiner Musik kontrapunktische Verdichtung, Chromatik oder weitergehende moti­vische Entwicklung. Stattdessen setzte er auf statische Architektonik mit sich stetig wiederholenden, rhythmischen Motiven. Damit entwickelt seine Musik geradezu hypnotische Wirkung, die sein Publikum völlig in Bann schlägt. (Ein Kollektiverlebnis, wie es auch die Nationalsozialisten von der Kunst erwarteten).

Foto: Maisie Cousins, Prawns, 2015, courtesy the artist and TJ Boulting

Catulli Carmina

„Mit dem Erfolg der Carmina Burana war schon bald von verschiedenen Bühnen immer wieder der Wunsch laut geworden, dass ich dieses solitäre, nicht abendfüllende Werk durch ein zweites ergänzen sollte. Nach vielen wieder verworfenen Plänen kam mir 1941 der Gedanke, auf die so schnell in Vergessenheit geratenen Catull-Chöre, die mir noch immer am Herzen lagen, zurückzugreifen.“
Orff hatte Anfang der dreißiger Jahre zwei Chorzyklen komponiert, die aus der Begeisterung für die Zeilen „Odi et amo“ („Ich hasse und ich liebe“) des römischen Lyrikers Catull entstanden waren:
„‘Odi et amo‘– diese Zeilen, kurz und wie gemeißelt, faszinierten mich, sie waren für mich Musik. Ein Funke sprang über und hatte gezündet“, schrieb Carl Orff über das berühmte Verspaar von Catull.
Der erste A-capella-Chorzyklus wurde nun zum Ausgangs­modell für die Catulli Carmina (Die Lieder des Catull), die 1943 in Leipzig uraufgeführt wurden. Der römische Dichter Catull, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert gelebt hat und nur 30 Jahre alt wurde, ging als junger Mann nach Rom, wo er sich in eine verheiratete, offenbar ziemlich prominente Frau verliebte, die er „Lesbia“ nennt. Damit bezog er sich auf Sappho, die berühmte Dichterin aus Lesbos. Einem lyrischen Tagebuch gleich richtete Catull 25 Gedichte an Lesbia, die sein Liebesabenteuer von den idyllischen Anfängen bis zum bitteren Ende aufzeichnen.
Aus diesen Gedichten gestaltete Orff 12 Miniszenen für seine ­Catulli Carmina. Diese werden von einem Vor- und einem Nachspiel gerahmt, welche der altphilologisch sehr gebildete Komponist selbst in lateinischer Sprache verfasste: ein Streit zwischen liebesgierigen jungen Menschen und desillusionierten, meckernden Greisen. Während Solist*innen und Chor die Liebesgeschichte a capella singen, wird die Rahmenhandlung von einem kraftvollen Perkussionsorchester aus vier Klavieren, Pauken und 21 Schlag­instrumenten begleitet.

Foto: Staatsoper Hamburg

Trionfo di Afrodite

Für das letzte Werk des ‚Trittico teatrale‘, den „Triumph der Aphrodite“, kombinierte der Komponist Anfang der fünfziger Jahre lateinische „Hymenäen“, also Hochzeitsgedichte, wiederum von Catull, mit sehr erotischen Versen der griechischen Poetin Sappho, die schließlich vom ekstatischen Preislied auf die Liebesgöttin Aphrodite (aus der Tragödie Hippolytos) des Euripides gekrönt werden.
Sappho, die bedeutendste Lyrikerin der Antike, lebte um 600 v. Chr. auf der griechischen Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum dieser Zeit, wo sie eine Gruppe junger Mädchen vornehmer Herkunft als Schülerinnen um sich versammelte. Sie unterrichtete die jungen Frauen in musischen Fertigkeiten wie Poesie, Musik, Gesang und Tanz und trat mit ihnen bei Festen zu Ehren der Götter auf. Sappho schrieb Götterhymnen, Hochzeits- und Liebeslieder, von denen jedoch nur ein kleiner Bruchteil erhalten geblieben ist.
Trionfo di Afrodite imaginiert das kultische Ritual einer griechisch-römischen Hochzeit mit Spielen, Liedern und der Anrufung des Hochzeitsgottes Hymenäos. Carl Orff wagte sich in Afrodite musikalisch am weitesten vor. Er bricht aus der Tonika-Dominante-­Ordnung aus und verbindet archaisch anmutende Stilmittel mit einer eher vortonalen, nicht dur-moll-orientierten Harmonik. Eine Tonart ist nirgends ausgeprägt.

Die Aufführung

In der Hamburger Aufführung wird die musikalische Welt vor unseren Augen aufgebaut. Wie eine gewaltige Maschine schiebt sich das Orchester auf die Bühne, so dass wir die Musiker*innen den ganzen Abend auch optisch erleben können. Es beginnt mit den schmal besetzten Catulli Carmina, denen Trionfo di Afrodite mit riesigem Orchester folgt, bis die bildgewaltigen Carmina Burana den Abend beschließen.
Für den Regisseur Calixto Bieito und sein Team spannt sich ein großer Bogen über die drei Werke. „Wir machen eine Reise aus der Nacht in den Tag, aus der Vergangenheit bis in unsere Zeit. A fortune journey“, sagt Bieito. „Alles beginnt mit der Musik, mit Instrumenten, die Menschen und Monster gebären können. Aus einem Traum von Liebe, glücklich und traurig, wird eine Hochzeit mit Ritualen von überall, aus vielen Kulturen und Zeiten. Wenn schließlich Afrodite erscheint, triumphiert die Befreiung. Die Gesellschaft feiert sich selbst und den Moment von Balance, Liebe und Harmonie.“ Carmina Burana schließlich ist wie ein Lebenszyklus, gerahmt vom Fortuna-Chor, der in einem üppigen Fest gefeiert wird. „In Carmina Burana dominieren Widersprüche, Verwirrung, das Chaos, das wir nicht kontrollieren können, sondern das uns regiert“, meint Calixto Bieito. „Und der Fortuna-Chor am Ende zeigt uns, dass Zufall und Natur die wahren Herrscher über unser Leben sind.“