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Ciboulette

„Geniales Musikinstrument“ – Der Komponist Reynaldo Hahn

Als der Komponist Reynaldo Hahn Anfang der 1920 er Jahre gefragt wurde, eine Operette zu komponieren, hatte er bereits ein ereignisreiches Leben hinter sich. Geboren 1874 in Venezuela, verweist sein Nachname auf die Herkunft seines Vaters, einem aus Hamburg stammenden jüdischen Unternehmer. Dieser war zunächst nach Venezuela ausgewandert, um sich dann später mit seiner venezolanischen Frau baskischer Herkunft und seinen zehn Kindern in Paris niederzulassen. So wuchs Reynaldo Hahn ab seinem dritten Lebens­jahr in Paris auf und erregte bald Aufsehen als musikalisches Wunderkind. Er sang, spielte, komponierte und entzückte in den Pariser Salons Adlige und Künstler gleichermaßen.
Als er 1894, mit 19 Jahren, den jungen Marcel Proust kennenlernt, arbeitet Reynaldo Hahn, damals Schüler von Jules Massenet, gerade an seiner ersten Oper: Île du rêve. Und Proust ist hingerissen von dem jungen Künstler: „Den Kopf leicht nach hinten geneigt, während der melancholische, ein wenig verachtungsvolle Mund die rhythmisierte Flut der schönsten, der traurigsten und der wärmsten Stimme entlässt, die es je gab, so schnürt dies ‚geniale Musikinstrument‘, das Reynaldo Hahn heißt, alle Herzen zusammen, benetzt alle Augen im Schauder der Bewunderung, den er weithin verbreitet, und der uns zittern lässt, uns beugt, in einem stillen und feierlichen Wogen des Weizens unter dem Wind.“ Bald entwickelt sich zwischen dem bekannten Musiker und dem noch unbekannten Schriftsteller ein Liebesverhältnis, das nach einiger Zeit in eine lebenslange, intensive Freundschaft übergeht – von der noch heute ein reicher, von Esprit und Leben sprühender Briefwechsel zeugt.
Zu Beginn der 1920er Jahre war Marcel Proust ein berühmter Schriftsteller geworden. Das einstmals gefeierte Wunderkind Reynaldo Hahn hingegen, Komponist von Liedern, Opern und Balletten, konnte im Europa nach dem Ersten Weltkrieg an die in ihn gesetzten Hoffnungen aus der Zeit der Belle Époque nicht in dem Maße anknüpfen, wie er es selbst gewünscht und erwartet hatte. Den Auftrag – nicht etwa eine Oper – sondern erstmals eine ­Operette zu komponieren, nahm er dennoch an und schuf in den Jahren 1921/22 Ciboulette. Als eines der letzten Werke dieser Gattung lässt diese französische Operette aus dem Blick des Spät­geborenen die Zeit des Second Empire wiederaufleben, als Zitat, als Ort der Nos­talgie, geschrieben mit der Feder eines Menschen der 1920er Jahre, der dieser Melancholie die erfrischende Sachlichkeit der Moderne zur Seite stellt.
Als Ciboulette am 7. April 1923 uraufgeführt wurde, war Marcel Proust wenige Monate zuvor gestorben, den Erfolg dieser Operette, die zum meistgespielten Bühnenstück seines Freundes Reynaldo Hahn werden sollte, erlebte er nicht mehr. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörte Ciboulette zu den meistgespielten, beliebtesten Operetten in Frankreich, 1933 entstand sogar eine Verfilmung.

Ciboulette

„Ciboulette“ – zu Deutsch „Schnittlauch“, so nennt sich die Hauptperson des Stückes, eine beherzte junge Gemüsehändlerin vom Land, die ihre Ware in den legendären Pariser Markthallen „Les Halles“ verkauft. In der Begegnung mit Antonin, einem reichen, adeligen Müßiggänger und seiner nun mit einem Husarenoffizier poussierenden Ex-Mätresse Zénobie, sowie angestachelt durch eine skur­rile Vorhersage der Wahrsagerin Madame Pingret führt Ciboulette uns in einen abenteuerlichen Handlungswirbel um Liebe und Lust – der sich nach drei Akten voller Tempo und Witz bei einer aus­gelassenen Maskerade im Walzertakt in glückliches Wohlgefallen auflöst. Wesentliche Impulse bekommt das Geschehen durch den Direktor der Markthallen, Rodolphe Duparquet, der in seiner Jugend als Bohèmien gelebt und in tragischer Liebe mit der jungen Näherin Mimi verbunden war … Doch nicht nur in der Handlung, auch in der Musik wird in vielfacher Weise die Vergangenheit ­angespielt und zitiert, u. a. Jacques Offenbach, Johann Strauss, Georges Bizet bilden das musikalischen Beziehungsgeflecht, aus dem sich „das geistvolle Spiel mit dem Vorbei des Vorbei“ (Volker Klotz) zum munter vorwärtspulsierenden Takt der szenischen Gegenwart formt.

Nostalgie heute – Sascha-Alexander Todtners Inszenierung

So prägt gleich mehrfache Nostalgie dieses Werk: Zunächst Reynaldo Hahns Erinnerung an seine Zeit als Komponist der Belle Époque. Dann „blicken Hahn und seine Librettisten auf das Zweite Kaiserreich zurück, das Jahr der zweiten Weltausstellung, und Duparquet beschwört innerhalb des Stücks wiederum die Zeit ungefähr zwanzig Jahre davor“, so Regisseur Sascha-Alexander Todtner. „Und für mich war dann die Frage: In welche Zeit würden wir uns aus unserer heutigen Sicht in ähnlicher Weise nostalgisch zurücksehen?“ Aus Perspektive des jungen Regisseurs und seines Teams „ist das die Zeit der 1980er, frühen 1990er Jahre, die Zeit des Mauerfalls, als der Eiserne Vorhang sich hob und noch kein Krieg in Europa tobte. Diese Freude, der Optimismus, die Aufbruchstimmung, die damals herrschte.“ Dabei führt Sascha-Alexander Todtner das Prinzip dieser Operette, die sowohl im Libretto als auch in der Musik mit Versatzstücken und Zitaten arbeitet und somit trotz der ganz konkreten, wenn auch märchenhaften Geschichte, Raum schafft für Spiel und Uneigentlichkeit, in seiner Erzählweise fort. Denn Handlungsort in der opera stabile werden nicht die Pariser Markthallen oder aber das Atelier des Komponisten Olivier Métra sein, in dessen ­Salon sich Welt und Halbwelt begegnen, sondern – „wir haben uns entschieden, das Stück in einem queeren Safe Space in der Manier eines New Yorker Ballrooms der 1980er und 1990er Jahre zu spielen.“ Und in den zu dieser Ballroom-Szene gehörenden Wettbewerben, den sogenannten „Kategorien“, finden sich dann die insgesamt vier Handlungsorte der Operette wieder. Auf diese Weise bietet diese Produktion, so Todtner, nicht allein „tolle Sänger*innen, tolle Musik“, sondern „eröffnet auch die Möglichkeit, etwas von dieser queeren Welt mitzuerleben, die für viele Leute vielleicht unbekannt ist.“

Grandezza und Durchsichtigkeit – Johannes Harneits Bearbeitung

„Wenn es eine Institution für Diversität gibt, dann die Oper“, so der Komponist Johannes Harneit, „Männer in Frauenrollen und Frauen in Männerrollen sind da von Anfang an normal“. Johannes Harneit hat die Aufgabe übernommen, Reynaldo Hahns große Operette für die Aufführungsbedingungen der opera stabile einzurichten. Das bedeutet eine Reduktion des Orchesters und eine Zusammenlegung mancher Partien – was zum Anlass genommen wird, die Figuren, dem Regiekonzept entsprechend, auch geschlechterübergreifend die Rollen wechseln zu lassen. Und nicht nur die Fluidität der geschlechtlichen Zuschreibungen und Identitäten, auch die Zeit und Szenerie, in der die Regie ihre Erzählung der Operette ansiedelt, wird in der einen oder anderen Weise in der musikalischen Fassung anklingen. Jedoch, das ist Harneit wichtig, jegliche Bearbeitung geschieht „nicht parodistisch, sondern künstlerisch im Stil des Komponisten.“ Und dieser Stil hat es in sich. Denn an dieser ersten Operette Reynaldo Hahns merkt man, so Johannes Harneit, „dass Hahn bereits große Oper komponiert und auch Erfahrung mit ihrer Aufführung hat. Und diese Erfahrung verwendet er nun, um ­trockener, um genauer zu werden und damit an der Grenze zur Parodie zu bleiben. Und das kann man natürlich erst dann, wenn man vorher weiß, was man parodiert.“ ­Dabei entsteht eine Musik, die „an der Oberfläche wunderbar konsumierbar ist und den Musikern in der Ausführung Spaß und ­Begeisterung bringt.“ Grandezza und Durchsichtigkeit zugleich, das schreibt Reynaldo Hahns Musik vor, und das wird es auch in Johannes Harneits Bearbeitung dieser großen französischen Operette für die opera stabile zu hören sein, dabei mit durchaus ungewöhn­lichen Entscheidungen in der Instrumentation – etwa fehlen die zweiten Geigen, eine Harfe jedoch wird es geben, „das ist in der französischen Musik obligat“.

Viel wird also zu erleben und zu entdecken sein, wenn dieses berühmte Bühnenwerk Reynaldo Hahns, französischer Weltbürger, Sohn eines Hamburgers, seine Erstaufführung in der Hansestadt feiert. Denn nicht zuletzt präsentieren sich dabei acht herausragende junge Sängerinnen und Sänger des Internationalen Opernstudios, mit der klang- und tatkräftigen Unterstützung von Gabriele Rossmanith und Marta Świderska. In der Ausstattung von Christoph Fischer und unter der musikalischen Leitung von Nicolas ­André gestalten sie den sommerlichen Ausklang dieser Spielzeit – „Glückseligkeit vergeht, morgen schon sind wir sehr alt, lasst uns lieben, solange wir jung sind …“ (Ciboulette)