Balanceakt am Abgrund mit Georg Philipp Telemann

Ein Beitrag von Ralf Waldschmidt aus dem Journal Nr. 6 der Spielzeit 2022|23 über die Neuproduktion „Die Kuh – doch halt, nein, nein!“ in der opera stabile.

Als Georg Philipp Telemann 1767 in Hamburg starb, hatte er über 45 Jahre lang das Musikleben der Hansestadt entscheidend geprägt. Zu Lebzeiten galt er als der wichtigste zeitgenössische Komponist überhaupt, bedeutender als Bach oder Händel, seine Werke wurden in ganz Europa geschätzt. 1681 in Magdeburg geboren, begeisterte er sich schon als Kind für Musik, erlernte mehrere Instrumente, sang und komponierte bereits mit neun Jahren erste Stücke. Seine Natur war die Musik, „welches ich für eine Haupt = Glückseeligkeit meines Lebens schätze.“ (Telemann) Er muss Zeit seines Lebens beinahe täglich komponiert haben, schuf er doch über 3600 Werke in fast allen Gattungen. Dabei war er ein Verkaufs- und Vermarktungstalent, als sein eigener Verleger sorgte er für die Verbreitung seiner Werke von Paris bis London und von Kopenhagen bis Madrid, damals ein innovatives Geschäftsmodell.

Nach seinem Tod allerdings wurde sein Nachlass verstreut, verteilt auf verschiedene Besitzer und Bibliotheken. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und der deutschen Teilung galten viele Werke endgültig als verloren oder verschollen, und erst 1999 stellte sich heraus, dass ein großer Teil mit den Beständen der Berliner Singakademie in die Ukraine nach Kiew gelangt war. Glücklicher­weise – so muss man angesichts der aktuellen Lage sagen – wurde diese Sammlung 2001 nach Berlin zurückgeführt. Doch weiterhin gilt, dass von vielen Werken, darunter auch die zahlreichen Opern Telemanns, nur Bruchstücke, einzelne Arien oder Nummern erhalten sind. Nachdem in den vergangenen Spielzeiten die Opern „Orpheus“ und „Miriways“ bereits in der opera stabile gezeigt wurden, stellt die Staatsoper Hamburg nun einen Telemann-Abend ganz besonderer Art vor. Regisseur Vladislav Parapanov hat dazu einige Fragen beantwortet.

Foto: Jörg Landsberg

Figuren aus unterschiedlichen Werken von Georg Philipp Telemann begegnen sich in „Die Kuh – doch halt, nein, nein!“ Welche Geschichte erwartet uns, oder – gibt es überhaupt eine „Geschichte“? Vladislav Parapanov: Unsere Geschichte beginnt dort, wo sie bei Telemann aufhört. Viele seiner Werke sind verschollen, wurden zerstört, wir stellen die Frage: Was passiert eigentlich mit Musik, die nicht vollständig ist? Was passiert mit Figuren, die ihren Werken entrissen sind? Welchen (Überlebens-)Kampf führen Helden, deren Partner nicht mehr da sind?

In der Zeit des Barock war es üblich, Teile aus verschiedenen Werken zu einem „Pasticcio“, einer „Pastete“, zusammenzufügen und so eine neue Oper zu schaffen. Üblicherweise wurde vorhandene Musik mit neuen Texten kombiniert, die sich zu einem neuen Libretto zusammenfügten. Die Kuh – doch halt, nein, nein! dreht die Schraube noch eine Umdrehung weiter, indem die Fragmente und Nummern nicht miteinander zu einer einzigen Handlung verschmolzen werden, also nicht etwa ein musikdramatisches Amalgam entsteht, sondern die einzelnen Teile und ihre Protagonisten heimatlos und verloren aufeinandertreffen, auf einer Insel stranden …

In Hamburg ging nichts ohne Telemann

Als Städtischer Musikdirektor war Telemann in Hamburg seit 1721 für die Kirchenmusik in allen fünf Hauptkirchen verantwortlich, d. h., er hatte eigene Kom­positionen anzufertigen und auch die Ausführung in allen Belangen zu organisieren und selbst zu leiten. Dazu übernahm er 1722 die Leitung der Oper am Gänsemarkt, die er bis zu deren Schließung 1738 innehatte. In dieser Zeit entstanden ca. 25 Opern, die zum großen Teil verschollen sind. Insgesamt sind die Titel von mehr als 40 Telemann-Opern bekannt, von denen nur neun vollständig erhalten sind. Doch stammt die Musik zu Die Kuh – doch halt, nein, nein! nicht nur aus Musiktheaterwerken, sondern aus ganz verschiedenen Gattungen, darunter Passionen, Kantaten oder reinen Instrumentalwerken.

Telemann war ein Meister darin, die unterschiedlichsten Gefühle und Situationen musikalisch auszudrücken. Pathos und tiefe Empfindungen standen ihm dabei ebenso zu Gebote wie Humor und Satire. Er rühmte sich, praktisch alles in Musik setzen zu können. Dabei war nicht immer reiner Wohlklang sein Ziel, wenn es der Zusammenhang eines Werkes erforderte, waren auch drastische Töne seine Sache, wobei ihm offenbar die Beschäftigung mit Tierstimmen besondere Freude bereitete. So könnte unser aktueller Telemann-Abend auch den Untertitel tragen: „Von schnatternden Enten, concertierenden Fröschen und einer Kuh, die vielleicht doch eine Ziege ist …“

Sein Freund und Komponistenkollege Mattheson sparte dabei nicht mit kritischen Anmerkungen:
„Worte, die keinen angenehmen Ton zulassen und wider alles musikalische Geläute laufen, als da sind: Zischen, Lärmen, Schnattern, Krähen etc., sollten mit Fleiß vermieden werden, weil sie dem Komponisten nur Anlaß geben, sein Metier zu prostituieren, und im Zuhörer weiter nichts als Gelächter erwecken. Vor allem sollte die Vokalmusik mit solch niederträchtigen Dingen, die gegen die Würde der Musik verstoßen, verschont bleiben. So dürfte ein satter Ochs in dem Munde einer schönen Sängerinn oder das Wiehern muntrer Pferde, Enten, Gänse, Ziegen vielen Hörern unangenehm aufstoßen …“

Foto: Jörg Landsberg

Und doch sah Johann Mattheson Telemann an der Spitze der europäischen Komponistenelite. In einem Zweizeiler stellte er Telemann über zwei sehr berühmte Komponisten, den Italiener Arcangelo Corelli und den Franzosen Jean-Baptiste Lully: „Ein Lulli wird gerühmt, Corelli läßt sich loben; nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.“ Telemann empfand sich in diesem Sinne als europäischer Komponist, er war stolz darauf, musikalische Traditionen der wichtigsten Musiknationen zu seiner eigenen Sache zu machen und schrieb 1729 in einer seiner Autobiografien (von denen er mehrere verfasste): „Was ich in den Stylis der Music gethan, ist bekannt. Erst war es der Polnische, dann folgete der Französ., Kirchen-Cammer- und Opern-Styl und was sich nach dem Italiänischen nennet, mit welchem ich denn itzo das mehreste zu thun habe.“ Die opera stabile ist mit „Die Kuh – doch halt, nein, nein!„ erneut ein Ort des Experiments, ein Ort der die jungen Künstler*innen des Internationalen Opernstudios einlädt, eigene Wege einzuschlagen, neue Erfahrungen zu machen. Für Regisseur Vladislav Papanov besteht gerade hierin ein besonderer Reiz.

Die Sängerinnen und Sänger sind Mitglieder des Internationalen Opernstudios. Was bedeutet die Arbeit mit einem so jungen Ensemble für den Regisseur?
Vladislav Parapanov: Diese Opernstudio-Produktion ist für alle etwas ganz besonderes, denn am Ende der Spielzeit werden die jungen Sänger*innen eigens für sie gestaltete große Rollen übernehmen, sowohl gesanglich als auch szenisch. Es sind quasi die ersten Hauptrollen, die sie erarbeiten. Das ist schon ein spannender Prozess. Die opera stabile ist keine Opernbühne im klassischen Sinn, sondern ein Ort, der sich durch die Nähe zwischen Publikum und Szene auszeichnet, auch ein Ort für Experimente und neue Sichtweisen.

Worin besteht der Reiz, hier zu arbeiten und was bedeutet das für die Telemann-Produktion?
Vladislav Parapanov: Die stabile ist wie gemacht für intime und unkonventionelle Erzählweisen. Somit der perfekte Ort für unser Telemann-Projekt, bei dem die Figuren auf engstem Raum gefangen sind und durch eine Zwischenwelt navigieren. Auf der großen Bühne wäre das nicht möglich. Gerade der enge Raum eröffnet andere, uns nicht gewohnten Perspektiven. Und plötzlich ist eine Nähe da, nicht nur rein physisch.