Drama der Gegenwart – Donizettis „Lucia di Lammermoor“
Ein Beitrag von Janina Zell aus dem Journal Nr. 4 der Spielzeit 2022|23 über Gaetano Donizettis berühmtes Werk Lucia di Lammermoor.
Lucia di Lammermoor ist die berühmteste Oper Gaetano Donizettis und einer der Höhepunkte des Belcanto, doch sind es nicht allein vokale Herausforderungen, mit denen sich Interpretinnen der Titelpartie konfrontiert sehen. Das Drama um die junge Lucia, die sich in einen Mann des verfeindeten Familienclans Ravenswood verliebt, hat es in sich. Statt in den Armen ihres Geliebten findet sich Lucia zwangsverheiratet mit einem Mann, den ihr Bruder für sie wählte, auf sich alleine zurückgeworfen. Sie tötet ihren Ehemann, um ihrem Schicksal zu entkommen und wird dabei selbst Teil der Gewaltspirale. In silbrig perlenden Koloraturen bricht der Wahnsinn aus ihr heraus – die Autoren sprechen ihr den Verstand ab –, anders lässt sich der Mord nicht erklären.
Knapp zweihundert Jahre alt, schreit dieser Stoff heute wie damals nach Vergeltung, nach Gerechtigkeit. Regisseurin Amélie Niermeyer assoziierte während der Konzeption ihrer szenischen Umsetzung eine Szene aus der Verleihung des Französischen Filmpreises 2020, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: Als Roman Polanski für seinen Film Intrige in der Kategorie „Beste Regie“ ausgezeichnet wurde, verließen mehrere Frauen wutentbrannt den Saal. Sie protestierten gegen eine Gesellschaft, die einen Künstler auszeichnete, der sich der amerikanischen Justiz durch Flucht entzogen hatte, aber seine weit in der Vergangenheit liegende Vergewaltigung einer Minderjährigen zugegeben hatte.
In ihrer Inszenierung stellt Niermeyer ihrer Protagonistin ein Frauenkollektiv in Videoprojektionen zur Seite, inspiriert vom Performance-Kollektiv „Las Tesis“ aus Chile, die mit Mitteln des Theaters die strukturelle Gewalt gegen Frauen thematisieren. Als weibliches Kollektiv bilden sie einerseits eine Gemeinschaft, die Lucia spiegelt und stützt, verdeutlichen zugleich aber ihre Einsamkeit in einer männerdominierten Welt.
Seit September 2022 gehen im Iran und weltweit Menschen auf die Straße. Sie protestieren gegen das Regime, die strukturelle Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen, nachdem die 22-jährige Mahsa Amini von der Sittenpolizei des Irans festgenommen worden war und starb. Menschenrechtsaktivisten sprechen im Iran von mehr als 18.000 festgenommenen Demonstranten, mindestens 475 getöteten und zwölf, denen die Todesstrafe drohe. Lucia ist kein Einzelfall, damals wie heute nicht. Donizettis Oper zeigt uns die Selbstermächtigung eines zunächst passiven Opfers. Niermeyer legt den Finger in die Wunde, offenbart die Struktur, die hinter diesem Opfer und dieser Täterin zugleich steht.
„Wir sind der Schrei, sehr laut und wild, von all den Frauen, die keine Stimme mehr haben“, heißt es im Protestlied „Un Violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) von „Las Tesis“.