Ein Märchen — und kein Ende: Giacomo Puccinis Turandot

Zu Giacomo Puccinis letzter Oper Turandot in der Inszenierung von Yona Kim

Auf den Handelswegen der Seidenstraße kamen vor Hunderten von Jahren die ersten Gegenstände aus dem fernen „Reich der Mitte“ nach Europa. Fremdartig, kunstfertig und geheimnisvoll kündeten sie von einer Hochkultur, deren Faszination mit ihrer Unerreichbarkeit einherging. Diese Gegenstände begründeten zugleich das spezielle Verhältnis europäischer und chinesischer Kultur, das fortan zumindest bis ins 20. Jahrhundert hinein in ständiger gegenseitiger Verfechtung, in einem Hin und Her der Einflüsse und Aneignungen bestand. Und so verschieden die europäischen Bilder und Auffassungen von China durch die Jahrhunderte waren, ob sie von Schönheit und Weisheit oder von Despotie und Grausamkeit erzählten – allen gemein war, dass sie die Anmutung von Rätsel- und Märchenhaftigkeit umgab.

Als Giacomo Puccini im Sommer 1920 mit der Arbeit an Turandot begann, war er 61 Jahre alt und ein weltbekannter Komponist. Seine Werke wie La Bohème (1896), Tosca (1900) oder Madama Butterfly (1904) gehörten zu den meistgespielten Opern des italienischen Repertoires und auch seine späteren Kompositionen – die für New York komponierte Goldgräber-Oper La Fanciulla del West (1910) oder das zuletzt entstandene, drei Operneinakter umschließende Il trittico (1918) – erfreuten sich internationaler Beliebtheit.
Seit 1918 hatte Puccini sich damit beschäftigt, einen Stoff zu finden, der ihm zu einer Vertonung für seine nächste Oper geeignet schien. Er wollte auch mit diesem neuen Opernvorhaben „unbeschrittene Wege“ gehen, neue Figurenkonstellationen und unbekannte Welten erschließen – und das bot ihm die Geschichte der grausamen chinesischen Prinzessin. Besonders reizvoll schien ihm, dass es sich diesmal nicht um eine realistisch angelegte Geschichte handelte, sondern dass er es hier mit der Phantastik eines Märchens zu tun hatte. „Peking, zur Zeit der Märchen“, lautet so auch die Ortsbezeichnung im Libretto. Ein Märchen jedoch, das zwar Überzeichnungen zulässt und manches im Unbestimmten lässt, in der Zeichnung der Figuren allerdings durchaus „normal und menschlich“ ist, wie Puccini im Hinblick auf die Stoffvorlage feststellt.

Giacomo Puccini (m) mit den Librettisten Renato Simoni (l)
und Giuseppe Adami (r)

Diese Stoffvorlage wiederum hat eine abenteuerliche Geschichte, in der sich verschiedene Zeiten sowie unterschiedlichste Spielarten von Aneignung übereinanderschichten und sich Kulturen von Ost und West – chinesische, persische, französische, deutsche und italienische Einflüsse – in unnachahmlicher Weise ineinander verschlingen. Erste Spuren der chinesischen Prinzessin finden sich in einem persischen Märchen aus dem 12. Jahrhundert. Von dort aus wanderte sie durch die orientalischen Literaturen, bis sie in einer auf französisch erschienenen Sammlung orientalischer Märchen im 18. Jahrhundert erstmals europäischen Boden betrat – und dort mit „Tourandocte/Turandotte“ auch ihren fortan gebräuchlichen Namen erhielt. Auf dieses Märchen griff der große italienische Komödiendichter Carlo Gozzi für seine Fiaba chinese teatrale tragicomica (tragikomisches chinesisches Märchen für Theater) zurück, das 1762 in Venedig seine gefeierte Uraufführung erlebte. Bedenkenlos verband Gozzi in seinem Theaterstück westliche und östliche Welten, indem er die orientalische Märchenerzählung um die chinesische Prinzessin Turandot mit Stegreiftheater venezianischer Figuren aus der Commedia dell’arte kombinierte. Gozzis Turandot erregte Aufsehen über Italien hinaus und erfuhr im 19. Jahrhundert eine weite Verbreitung auf Deutsch, in einer Fassung Friedrich Schillers, die 1802 am Theater Weimar unter der Intendanz Johann Wolfgang von Goethes zur Uraufführung kam.

In dieser Fassung, der idealistisch überformten Bearbeitung Schillers, rückübersetzt ins Italienische durch den Literaten und Übersetzer Andrea Maffei, lernte Puccini den Turandot-Stoff kennen und begeisterte sich für ihn. Puccini und seine Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni bearbeiteten die Geschichte weiter, verwandelten etwa die Commedia dell’arte-Figuren in die chinesischen Hofschranzen Ping, Pang, Pong und erschufen die Figur der Sklavin Liù. Damit wird die Geschichte der Turandot, erzählt durch Puccinis Musik, ein Märchen des beginnenden 20. Jahrhunderts – „eine Turandot aus einem modernen Gehirn“, wie Puccini selbst es fasste. Für seine Komposition ergeben sich aus diesen verschiedenen Schichten der Turandot-Erzählung die Möglichkeit, unterschiedliche Stile und Genres in einem Werk zu mischen – Groteske und Komik, Sentimentalität und Melodramatik, Realismus und Phantastik, Psychologie und Archaik, Chinoiserie und Italianità. Verflochten, gleichzeitig und miteinander agierend.

Diese Stilsynthese wird hörbar in Puccinis Musik von Turandot. Verschiedene musikalische Erzählweisen verbinden sich dort zu einem großen, zwischen Ost und West changierenden Panorama. Durch pentatonische Wendungen und die Hinzunahme einiger chinesischer Melodie-Elemente erweitert Puccini die Tonsprache der italienischen Oper – ohne deren Form jedoch jemals zu verlassen. Ähnlich verfährt er mit dem Klangapparat des Orchesters. Mit Ausnahme des Gongs finden sich dort keine genuin chinesischen Instrumente, aber ein ausgedehnter Apparat an Schlagwerk gibt die Möglichkeit, fremdartige Klangbilder zu evozieren. Die unmittelbare Prägnanz, mit der Puccini auf diese Weise Welten erschafft, wird so bereits in den ersten Takten der Oper hörbar: Mit wenigen, gewaltigen Akkorden steht die Sphäre des märchenhaft-gnadenlosen chinesischen Kaiserpalastes vor Ohren.

Wie in jeder seiner Opern stellt Puccini die Musik auch hier in bedingungsloser Weise in den Dienst der Erzählung, des Dramas. Im Laufe seines Lebens war er dabei in der Wahl der musikalischen Mittel immer kühner geworden. Und nur an der Bildhaftigkeit seiner musikalischen Sprache liegt es, dass die Musik aus der Partitur von Turandot mit ihren Dissonanzen, den bis ganz an den Rande der Tonalität geführten Klängen und Wendungen und ihren Stilsynthesen beim unmittelbaren Hören gar nicht wahrgenommen wird als das, was sie eigentlich ist: Musik der Moderne.

Puccini arbeitete an Turandot vom Sommer 1920 bis zu seinem Tod im November 1924. Die Briefe aus diesen Jahren zeugen von unterschiedlichsten Phasen in diesem Arbeitsprozess – großer Elan und Begeisterung lösen sich ab mit fundamentalen Zweifeln an allem schon zu diesem Werk Geschaffenen. „Stunde für Stunde, Minute für Minute denke ich an Turandot, und alle Musik, die ich bisher geschrieben habe, erscheint mir wie eine Posse und gefällt mir nicht mehr“, schreibt er etwa im Frühjahr 1924. Und im September 1924 dann: „Ich nehme die Arbeit wieder auf, die ich vor sechs Monaten unterbrochen habe. Und ich hoffe, ich komme mit dieser gebenedeiten Prinzessin bald ans Ende. Jetzt sehe ich wenigstens etwas klarer in vieler Hinsicht.“ Vollendet hat Puccini das Werk nicht. Am 29. November starb er in Brüssel infolge der Behandlungen seines Kehlkopfkrebses, der erst wenige Wochen zuvor diagnostiziert worden war. Komponiert hatte er bis in den 3. Akt hinein, bis zum Abgesang auf den Tod der Liù war die Partitur fertiggestellt. Für das noch folgende Ende der Geschichte – die Wandlung der „eiskalten“ Prinzessin Turandot zur liebenden Frau und das Happy End des Paares Turandot-Calaf, beglaubigt in einem Liebes-Duett, sind nur wenige Skizzen überliefert. Zu Ende geschrieben wurde die Oper von einem anderen Komponisten – Franco Alfano (1875–1954) – teils unter Einbeziehung der Skizzen Puccinis. Mit diesem Schluss, wiederum bearbeitet vom Uraufführungsdirigenten Arturo Toscanini, wird Puccinis Turandot bis heute am häufigsten aufgeführt. Damit bleibt die Oper Fragment und erscheint doch als ein Ganzes, eine weitere Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem in diesem letzten Werk Puccinis. Puccinis Briefe sowie die Tatsache, dass er die Entwürfe für das Finale der Oper mit in die Klinik nach Brüssel genommen hatte, um dort daran zu arbeiten, lassen davon ausgehen, dass Puccini die feste Absicht hatte, seine Oper zu vollenden und dabei vom Tod überrascht wurde. Doch wie hätte dieses Finale ausgesehen? Wäre er darin weitere Schritte in die Moderne hinein gegangen? Und hätte es tatsächlich das vom Märchen geforderte „gute Ende“ gegeben, hätte nach Folterung und Tod der Liù also die Liebe des herrschaftlichen Paares triumphiert? Wir werden es nie wissen. Man kann es als eine Art Tragik ansehen, dass es ausgerechnet Puccini, der in so besonderem Maße darauf aus war, jedes Detail in seinen Werken zu feilen und festzuschreiben, der im dramaturgischen Erzählverlauf seiner Opern nichts dem Zufall überließ und alles auf seinen Effekt und seine Glaubwürdigkeit hin überprüfte und zu Ende dachte, nicht vergönnt war, sein letztes Werk zu vollenden. Doch nun bleiben die offenen Fragen, die Unfertigkeit, der Bruch, der Fragmentcharakter dieser Oper eingeschrieben – und machen sie einmal mehr zu einem Werk, das seismografisch die Stimmung, die Situation und Atmosphäre seiner Entstehungszeit transportiert.

Giacomo Puccini in seinem Haus in Viareggio beim Radiohören

Die 1920er Jahre waren in Europa eine Zeit der Brüche und des Umbruchs: Das 19. Jahrhundert wird verabschiedet, die Gesellschaft und ihre Ordnung bricht auf und formiert sich neu, die Rollen der Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander werden neu verhandelt, neue Freiheiten schaffen neue Unsicherheiten, die Moderne revolutioniert die Kunst, asiatische Elemente faszinieren die europäische Kultur, während europäische Dekadenz in Asien gefeiert wird. Eine Zeit, in der auf den Trümmern des Ersten Weltkrieges getanzt wurde, während die heraufziehende Katastrophe vielleicht erahnbar, aber noch nicht fassbar war. Der Faschismus erstarkte, in Italien gelang es den Faschisten unter Mussolini bereits in den 1920er Jahren, große Massen zu mobilisieren und sich gegen die sich ebenfalls stark formierenden kommunistischen Bewegungen gewaltsam durchzusetzten. Ein Blick in den Abgrund, an seinem Rande stehend, auch das trägt Turandot mit sich und in dieser Welt verortet Regisseurin Yona Kim – dem Hamburger Publikum bekannt durch ihre Inszenierungen von Peter Ruzickas Oper BENJAMIN und Vincenzo Bellinis Norma – ihre Erzählung von Puccinis Turandot. In einem Raum, der unendlich viele Einblicke gibt, ohne sich je ganz zu verraten, mit einem Kostümbild, das die dem Stück innewohnende Verquickung von Asien und Europa aufnimmt, erzählt Yona Kim einen schwindelnden Albtraum, ein Schauermärchen für Erwachsene, einen Gesang angesichts der Nichtigkeit dieser Welt. Pulsierend von rauschhafter Intensität, vorangetrieben von Puccinis Musik, die kaum Atem lässt in ihrer Schilderung eines grandiosen Panoramas von grausamer Faszination und Schönheit. Und in Bildern, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Symbol, Märchen und Realität speisen, spitzt sich die Geschichte zu in einem Kampf zwischen Mann und Frau. Der bis ans Äußerste geht – und doch zu keinem Ende kommt.

Von Angela Beuerle, erschienen im journal Nr. 4 der Spielzeit 2021/22