4

Im Gespräch mit: Johannes Gontarski

„Wenn es brennt, dann brennt es richtig.“

Johannes Blum, Leitender Dramaturg, und Frederike Krüger, Dramaturgieassistentin bei „¡Gesualdo!“, treffen den musikalischen Leiter der Produktion, Johannes Gontarski, auf ein Gespräch – über Carlo Gesualdo, Madrigalkunst und die Besonderheiten seiner Komposition.

Frederike Krüger: Gesualdos Musik ist sehr komplex und für uns heute vielleicht auch schwierig zu begreifen.
Johannes Gontarski: Man versucht oft, Musik in ein theoretisches Schema zu packen. Bei Gesualdo kommt man nicht weiter, seine Kompositionsweise scheint in kein musiktheoretisches Schema zu passen. Wenn man sie aus heutiger Sicht hinsichtlich Harmonielehre betrachtet, merkt man, dass Gesualdo etwas sehr Besonderes ist. Die Schwierigkeit, seine Musik darzustellen und zu interpretieren, ist ein Alleinstellungsmerkmal. Das merken wir jetzt auch in den szenischen Proben. Sobald irgendjemand nicht mehr voll dabei ist, kippt alles um.

 

¡Gesualdo!

Foto: Hans Jörg Michel

Johannes Blum: Wie ist Gesualdos Technik des Komponierens im Kontext seiner Zeit zu verstehen, in welchem Gefüge von musikalischer Entwicklung steht sie?
Johannes Gontarski: Ein besonderes Merkmal seiner Kompositionsweise ist, dass er allem diesen „großen Bogen“ entzieht. Das passt auch sehr gut zu Einsteins Bild der Seekrankheit („Es ist unmöglich, drei solcher Stücke hintereinander zu singen, ohne von einer Art musikalischer Seekrankheit befallen zu werden; die Dosis ist zu hoch und der Boden unter den Füßen zu unsicher.“, Albert Einstein) und des unsicheren Bodens. Es fehlen tatsächlich manchmal die Grundtöne, und so steht das Gebilde immer ganz kurz vor dem Umkippen.
Johannes Blum: Die Statik fehlt.
Johannes Gontarski: Ja, genau. Manchmal klingt es wie Jazz. Es kommt natürlich darauf an, wie es musiziert wird. Aber wenn man an manchen Stellen nur auf die Orgel hört, dann denkt man, stilistisch ganz woanders gelandet zu sein.

 

Johannes Blum: Von Gesualdo sagt man, dass er Tradition und Revolution miteinander verbindet. Wann ist er Traditionalist?
Johannes Gontarski: Schon alleine, dass er Madrigale komponiert, zeigt sehr deutlich, dass er in der Tradition seiner Zeit arbeitete. Madrigale waren Poesie und ein weit verbreitetes Mittel zur Unterhaltung. Die Leute haben sie sich aus Spaß gegenseitig vorgesungen. Es gibt viele kleine Feinheiten in den Madrigalen, viele Sachen sind sehr humorvoll, es geht ja nicht immer nur um Tod und Schmerz. Damals las man keine Bücher oder schaute Fernsehen, man sang Madrigale.
Johannes Blum: Madrigale hörte man eher im Privaten?
Johannes Gontarski: Wo wurde damals schon Musik im öffentlichen Raum gezeigt? Meistens wurde die Musik ja nur am Hofe gespielt, zu Ehren des Herrschers, der selbst mitmusiziert oder mitgetanzt hat. Jeder hat gelernt, zur Jagd zu gehen und genauso hat jeder ein Instrument gelernt.
Johannes Blum: Die Herrscher waren also nicht nur Auftraggeber der Musik?
Johannes Gontarski: Zuweilen haben sie auch komponiert. Es gab zwar die angestellten Berufsmusiker, aber die Herrscher schmückten sich mit ihrer Musik und ihren Musikern. Jeder wollte den anderen ausstechen, dem anderen Hof die Musiker ausspannen.

 

¡Gesualdo!

Foto: Hans Jörg Michel

Johannes Blum: Aber dass ein Fürst wie Gesualdo Musik in dieser extremen Form komponiert, ist schon etwas Besonderes, oder?
Johannes Gontarski: Auf jeden Fall. Auch die Tatsache, dass er uns seine Musik in gedruckter Form hinterlassen hat. Auch gibt es genaue Informationen über Musiker, die sich an seinem Hof aufgehalten und gearbeitet haben, wobei die nicht nur seine Musik gespielt haben.
Johannes Blum: Wieso?
Johannes Gontarski: Das liegt einfach an der technischen Schwierigkeit der Musik. Ich merke jetzt schon, wie ich mit meinem Instrument, der Theorbe, an die Grenzen komme. Irgendwann sprengt jedes Stück den Tonumfang. Wobei Gesualdo mit seiner Experimentierlust auch nicht ganz alleine dastand, gerade wenn wir uns seinen Zeitgenossen Monteverdi ansehen.

 

Johannes Blum: Bei aller Komplexität und „Merkwürdigkeit“ von Gesualdos Musik darf man aber nicht den Fehler machen anzunehmen, dass seine Musik kaum gespielt wurde? Dass sie nur Musik im Kopf eines Exzentrikers war?
Johannes Gontarski: Sie war normal verbreitet, vor allem seine Madrigale wurden gespielt und gesungen. Seine Musik war aber schon in gewisser Weise sehr wild. Die Zeit um 1600 war sowieso die verrückteste Zeit überhaupt. Es wurde in allen Bereichen des Lebens unglaublich viel experimentiert und geforscht. Auch wenn wir an Galileo denken oder Zeitgenossen in Musik, Malerei oder Naturwissenschaft.
Johannes Blum: Also der Umbruch von Renaissance zu Barock? Wo sich das Ich, die Subjektivität Bahn bricht?
Johannes Gontarski: Ja, dass dieser Humanismus nach 100 Jahren endlich ankommt und die Komponisten sich trauen, ganz anders Emotionen auszudrücken und dieser Herausforderung nachzugehen. So wie es auch Gesualdo machte.

 

Johannes Blum: Bei ihm hat man nicht das Gefühl, dass er die Fähigkeit der Sicht von außen auf seine Stücke oder auf seine künstlerische Praxis hat.
Johannes Gontarski: Er war zwar gut vernetzt, aber irgendwann hat er sich immer weiter zurückgezogen und viele Jahre nur noch auf seinem Anwesen in Gesualdo verbracht, fast gänzlich von der Außenwelt abgeschlossen. Dort entstanden dann auch das fünfte und sechste Madrigalbuch, Bücher, in denen er die größte ästhetische Zäsur macht und immer weiter ins Extreme ging. Also besonders nach 1590, nach der Zeit des Mordes.

 

¡Gesualdo!

Foto: Hans Jörg Michel

Frederike Krüger: Vor allem in den Responsorien geht es viel um Schuld und Vergebung. Versuchte er damit, die Tat in seiner Musik zu verarbeiten?
Johannes Gontarski: Die Responsorien wurden ganz klassisch in der Woche vor Ostern bzw. ab Gründonnerstag bis Ostersonntag aufgeführt, gesungen oder teilweise nur gelesen. Das war Tradition zu der Zeit. Gesualdo nahm vorhandene geistliche Texte und komponierte dazu sakrale Musik, die in Kirchen aufgeführt wurden. Und diese Texte drehten sich in diesem Kontext vor allem um Schuld und Vergebung, darum geht es an Ostern. Aber er benutzte das natürlich sehr gezielt.

 

Johannes Blum: Gesualdo hat sich beidem sehr intensiv gewidmet: sowohl der geistlichen als auch der weltlichen Musik. Wenn man will, lässt sich in beiden Bereichen seiner Musik eine gewisse Aufarbeitung oder Beschäftigung mit seinem persönlichen Leben und Erfahrungen annehmen. In den Madrigalen werden Liebe, Sexualität und Tod in verschwimmenden Grenzen zu Musik. Ebenso in der geistlichen Musik, in den Responsorien, wenn es um Schuld und Erlösung geht. Auch dort werden diese Grenzen aufgebrochen.
Johannes Gontarski: Ja, wobei es natürlich nach wie vor spekulativ bleibt, inwieweit er wirklich direkt seine Biografie in seinen Werken behandeln oder verarbeiten wollte. Für mich malt Gesualdo vor allem Bilder. Es gibt weiße Flächen in den Noten, dann gibt es Blitze, und wenn es brennt, dann sieht man Flammen in den Noten. Man sieht emotionale Landschaften mit Wolken, Bergen und Seen, aber auch Gewitter und Waldbrände. Das führt zu einer Überladenheit, einer Überspannung, einer manieristische Überzogenheit des Ausdrucks. Wenn es brennt, dann brennt es richtig.

¡Gesualdo!

Foto: Hans Jörg Michel