Low Tide. Japan nach dem Tsunami – Im Gespräch mit dem Fotografen Denis Rouvre
Der französische Fotograf Denis Rouvre reiste sechs Monate nach dem Tsunami und dem Reaktorunglück von Fukushima in die Region Tōhoku, fuhr die 600km lange Küste des Landstriches entlang und hielt Momente der Landschaft und der Menschen, die die Katastrophe überlebt haben, fest.
„Nach jedem Foto entsteht Stille.“ – Eine Stille, ein neuer Moment, eine neue Ebene, die wir noch nicht kennen; in die Ungewissheit mischt sich die Gewissheit darüber, dass die Geschehnisse der Vergangenheit vorbei, aber nicht vergessen sind. Sie leben im festgehaltenen Moment weiter, in einem Foto, das Gefühle, Bedeutungen und Empfindungen transportiert; in einer Ewigkeit, die fortbesteht.
Für sein Projekt besuchte Rouvre die temporären Behausungen der Tsunami-Opfer und traf jene Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten und nicht mehr in die nun verseuchten Gebiete rund um ihre Heimat, Fukushima, zurückkehren können.
Wir haben uns mit Denis Rouvre über die Hintergründe seines Projekts unterhalten:
Denis Rouvre, Sie reisten bereits zweimal nach Tōhoku um Landschaft und Menschen zu portraitieren, die die Katastrophe von Fukushima überlebt haben. Wie näherten Sie sich den Betroffenen und wie war das Konzept Ihres Projektes?
All meine Aufnahmen entstanden in provisorischen Behausungen, die im Auftrag der japanischen Regierung erbaut wurden um die Überlebenden zu beherbergen. Ich kontaktierte in jedem der „Dörfer“ – jene Gemeinden aus Notunterkünften, bestehend aus 50 bis 500 Häusern – den jeweiligen Hauptverantwortlichen und erläuterte mein Projekt. Ich baute mein Studio in einem der Häuser auf und ging dann von Tür zu Tür um gemeinsam mit meinem Dolmetscher, die Menschen zu fragen, ob sie sich von mir fotografieren lassen würden. Ich bat sie, mir vorerst ihre Geschichte zu erzählen und machte im Anschluss die einzelnen Portraitfotografien. So ging ich in etwa 30 Dörfern vor.
Mit Ihren Portraits geben Sie der Katastrophe von Fukushima und all den Zahlen und Schlagzeilen ein Gesicht. Wie haben Sie die portraitierten Menschen wahrgenommen?
Zunächst einmal – und um den Kontext der Entstehung dieses Projektes zu erläutern – muss gesagt werden, dass nur rund 20% der von mir befragten Personen den Aufnahmen zustimmten. Ich habe Ihre Ablehnung weder als Angst, Wut oder Scham verstanden, sondern eher als Zweifel daran, wo der Nutzen des Projektes liege, in all der Traurigkeit und Verzweiflung. Über die Menschen die an meinem Projekt teilgenommen haben und die auf den Portraits zu sehen sind, denke ich, dass sie sich dem Leben stellen und sich beweisen wollen; sie versuchen den Kopf hochzuhalten.
Man könnte meinen, dass diese Einstellung der Besonderheit der japanischen Gesellschaft entstammt, jede Situation zu akzeptieren und ihr in Würde gegenüber zu treten. Schwäche wird nach außen hin nicht gezeigt. Ich kenne jedoch die japanische Gesellschaft nicht gut genug um diesbezüglich ein endgültiges Urteil zu fällen. Die von mir fotografierten Personen schienen froh darüber, ihre Geschichten mit einem ausländischen Fotografen teilen zu können, jedoch waren sie gleichermaßen besorgt, dass diese in Japan veröffentlicht würden. Tatsächlich ist es ein Faktum, dass die Veröffentlichung dieser Arbeit in Japan durchaus mit Schwierigkeiten verbunden wäre.
Wie erschienen Ihnen die Landschaft und die Küste von Tōhoku? Welche Gefühle riefen sie in Ihnen hervor?
Als ich mit dem Projekt begann, hatte ich noch keine vorgefertigte Idee darüber, wie ich vorgehen wollte und ursprünglich hatte ich nicht geplant, Landschaftsaufnahmen zu machen. Als ich aber begann die 600km lange, verwüstete Pazifikküste von Tōhoku entlang zu fahren, machte ich Fotos von der Aussicht. Diese entstanden ungeplant und schnell, immer nur ein Foto, aus dem Auto heraus oder von der Straße aus. Der Anblick berührte mich so tief und ich war so bewegt, dass ich beschloss, die Aufnahmen in die Serie mit aufzunehmen. Ich tat dies, da die Landschaft die tiefen Wunden und Stigmata der Katastrophe trägt, welche sich auch in den Gesichtern der Menschen abzeichnen.
Man muss beachten, dass die Aufnahmen im September 2011 entstanden, also sechs Monate nach dem Tsunami. Daher erscheint die Landschaft ein wenig aufgeräumter und das Chaos ist nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar. Dies gibt den Fotos auch einen Aspekt der „traditionell japanischen Landschaftssymbolik“.
Christian Caujolle, Fotografiekritiker und Kurator, beschreibt den Begriff der Stille als „Eine Zeit die uns sagt, dass es ein Zuvor gab und wir uns im Hinterher befinden. Dass das, was zuvor war, nicht mehr existiert und wir nie wieder Zugriff darauf haben werden.“ – nur die Bilder bleiben bestehen. Was ist das Besondere an Ihren Bildern und was erzählen sie uns?
Es ist immer schwierig, selbst zu beschreiben, was die Stärke der eigenen Bilder ausmacht. Auf die Worte von Christain Caujolle bezogen möchte ich sagen, dass ich selbst vor Ort diese Stille so intensiv und tiefgreifend wahrgenommen habe und dass sie wie ein Kennzeichen, wie das „Geräusch“ der Katastrophe bleibt.
Portraits können als Landschaft verstanden werden und Landschaften als Portraits, sie beide sprechen zusammen in der Stille und beide tragen Narben der schrecklichen Vergangenheit. Vielleicht liegt die Stärke meiner Bilder also in diesem stillen Dialog, den man geradezu spüren und hören kann.
Wo wir gerade von Stille sprechen und Ihre Fotos im Kontext zu unserer Produktion „Stilles Meer“ ausgestellt werden – was bedeutet Stille für Sie persönlich?
Für mich ist Stille etwas anderes als das gänzliche Fehlen von Geräuschen. Es ist ein anderer Zustand. Die Serie „Low Tide“ kann natürlich als ein kurzer Moment von Stille oder Ruhe im Leben der portraitierten Menschen betrachtet werden. Vor allem ist dieser Moment aber voller Bedeutung, Signifikanz, Stärke – wie beispielsweise in einem Musikstück. Es ist gleichzeitig Reaktion und eine Form von Zurückhaltung. Und darüber hinaus ein gewisses Gefühl, das für immer bestehen bleibt.
Im Rahmen der Uraufführung von Toshio Hosokawas „Stilles Meer“ im Januar 2016 zeigte die Staatsoper Hamburg die Werke des Projekts „Low Tide“.
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