Neuproduktion von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk

Ein Beitrag von Ralf Waldschmidt aus dem Journal Nr. 3 der Spielzeit 2022|23 über die uraufgeführte Oper Lady Macbeth von Mzensk, die von dem Versuch einer Selbstverwirklichung handelt, der mit dem Tod von vier Menschen endet.

Diese Oper war ein beispielloser Welterfolg. Kaum ein Werk des 20. Jahrhunderts verbreitete sich so schnell über die bedeutendsten Opernbühnen. Nach der doppelten Uraufführung im Januar 1934 in Leningrad und Moskau brachte es Lady Macbeth von Mzensk in diesen beiden Inszenierungen innerhalb von zwei Jahren auf 177 Aufführungen. Aus aller Welt reisten Dirigenten und Intendanten in die Sowjetunion, um Schostakowitschs Oper zu hören. Bereits im Winter 1934/35 dirigierten Arturo Toscanini und Artur Rodziński Ausschnitte daraus in den USA. 1935 fanden Premieren u. a. in Buenos Aires, Zürich, Cleveland, an der New Yorker Met, in Kopenhagen, Stockholm, Prag, in Preßburg und Ljubljana statt. Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) war mit Ende zwanzig auf dem Weg zum Weltruhm, auch seine Sinfonien wurden nun von berühmten Dirigenten wie Otto Klemperer oder Leopold Stokowski in ihre Programme aufgenommen. Doch noch im Jahr 1936 zog Schostakowitsch seine Oper zurück. Was war geschehen? Am 28. Januar 1936 erschien in der Prawda ein Artikel mit dem Titel Chaos statt Musik, nachdem Josef Stalin eine Vorstellung besucht und bereits in der Pause verlassen hatte. Dort war zu lesen: „Von der ersten Minute an verwirrt den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische Flut von Tönen, Bruchstücken von Melodien, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch (…). Der Komponist hat sich anscheinend nicht die Aufgabe gestellt, auf das zu hören, was das sowjetische Auditorium in der Musik erwartet und sucht.“ Das kam einem Verdammungsurteil gleich, dem eine Pressekampagne in der gesamten UDSSR folgte – und in der Zeit des Stalinistischen Staatsterrors bedeutete das Lebensgefahr für den Komponisten. „Der Artikel auf der dritten Prawda-Seite veränderte meine ganze Existenz. (…) Das Etikett ‚Volksfeind‘ blieb an mir kleben. Ich brauche nicht zu erklären, was dieses Etikett in der damaligen Zeit bedeutete“, so schilderte Schostakowitsch selbst seine Situation. Er hatte den Rest seines Lebens mit der Gefahr zu leben, jederzeit in Ungnade fallen zu können und im Gulag zu verschwinden.


Die Ausstattung entsteht in den Werkstätten nach den Entwürfen von Varvara Timofeeva. Foto: Michael Klaffke


Es war vermutlich nicht nur die musikalische Umsetzung, die dem Diktator missfiel, die Geschichte selbst ist provokant genug. Die Oper geht zurück auf die 1865 erschienene Erzählung Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk von Nikolai Leskow, die einen realen Kriminalfall zur Vorlage hatte. Leskow schildert die Ereignisse lapidar in einer scheinbaren Objektivität, die an Flauberts Madame Bovary geschult ist: Die junge Katerina ist mit dem Kaufmann Ismailow verheiratet worden, ohne wahre Liebe, kinderlos. Katerina verliebt sich in den jungen Gesellen Sergej. Das Verhältnis wird von ihrem Schwiegervater Boris entdeckt, der Sergej vor Katerinas Augen auspeitscht. Daraufhin vergiftet sie Boris mit Rattengift. Als Katerinas Ehemann sie und Sergej inflagranti ertappt und seine Frau prügelt, wird er von beiden gemeinsam erschlagen. Der Mord wird entdeckt, Katerina und Sergej werden zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien verbannt. Sergej hat sich inzwischen einer jüngeren Frau zugewandt. Katerina stößt die Nebenbuhlerin in die eiskalte Wolga und springt ihr nach, beide Frauen finden den Tod.

Foto: Michael Klaffke


Im Gegensatz zu Leskows fast emotionsloser Schilderung ergreift Schostakowitsch Partei für Katerina; den in der Novelle geschilderten dritten Mord Katerinas an ihrem jungen Neffen spart die Oper aus.
Schostakowitsch bezeichnete sein Werk als „Tragödie-Satire“. Tragisch ist das Schicksal Katerinas, einer jungen Frau, die aus einer tristen Ehe ausbrechen will und mit allen Mitteln ihr Recht auf eigenes Glück einfordert, dabei aber von den Verhältnissen und vom eigenen Gewissen unter unerträglichen Druck gesetzt wird. Als Sergej, dessen Glück sie will, sich von ihr abwendet, geht sie in den Tod. Satirisch ist die Schilderung der Gesellschaft, in der Katerina ihre Tragödie durchlebt. „Ungeachtet dessen, dass Jekaterina Lwowna die Mörderin ihres Mannes und ihres Schwiegervaters ist, sympathisiere ich mit ihr. Ich war bestrebt, der ganzen Lebensweise, die sie umgibt, einen finsteren, satirischen Charakter zu verleihen. Dabei verstehe ich das Wort ‚satirisch‘ durchaus nicht im Sinne von ‚lächerlich‘ oder ‚spöttisch‘. Im Gegenteil, mit Lady Macbeth bemühte ich mich, eine Oper zu schreiben, die den Charakter einer demaskierenden Satire trägt (…), Hass hervorruft (…) und die Krämerwelt verhöhnt.“ (Dmitri Schostakowitsch). Im Gegensatz zu Leskows Novelle ist Katerina bei Schostakowitsch eine Figur, die an Werke Dostojewskis erinnert, dessen Roman Aus einem Totenhaus das Schlussbild der Oper inspirierte. Eine klare Positionierung gegen die herrschenden sozialen Verhältnisse und für die Heldin der Oper ist Schostakowitschs eindeutiges Anliegen, darin etwa Janáčeks Katja Kabanowa nicht unähnlich. Schostakowitsch plante eine Trilogie über die Lage der Frau in den verschiedenen Epochen Russlands, die er aufgrund der Vorkommnisse um Lady Macbeth von Mzensk nicht verwirklichen konnte.
In der Drastik der Darstellung von Sexualität und Gewalt ging Schostakowitsch durchaus an die Grenzen des bis dahin Gewagten. Am extremsten wohl in der musikalischen Umsetzung des Liebesaktes zwischen Katerina und Sergej, eine orgiastisch-brutale Musik, die sich immer mehr steigert, bis sie sich in Posaunenglissandi erschöpft. Diese Passage hat Schostakowitsch ebenso wie einige sexuell eindeutige Textstellen selbst nach der Uraufführung und noch vor dem Prawda-Artikel abgemildert. Auch wenn Kritiker von „pornografischer Musik“ schrieben, so ging es dem Komponisten um Liebe: „Ich widmete Lady Macbeth meiner Braut, meiner zukünftigen Frau. Versteht sich, dass diese Oper auch von Liebe handelt, aber nicht nur. Sie handelt davon, wie Liebe sein könnte, wenn nicht ringsum Schlechtigkeit herrschte. An diesen Schlechtigkeiten ringsum geht die Liebe zugrunde. An den Gesetzen, am Besitzdenken, an der Geldgier, an der Polizeimaschinerie. Wären die Verhältnisse anders, wäre auch die Liebe eine andere.“ (Dmitri Schostakowitsch)

Dmitri Schostakowitsch mit seiner Frau Nina Wasiljewna, Mitte der 30er Jahre


Es dauerte 30 Jahre, bis Schostakowitschs Oper in einer stark abgemilderten Fassung erstmals wieder in der Sowjetunion gespielt werden konnte, unter dem Titel Katerina Ismailowa. Erst nach und nach wurde die Urfassung rekonstruiert, in Hamburg erlebte sie unter der musikalischen Leitung von Schostakowitschs Sohn Maxim 1990 ihre Erstaufführung. Inzwischen steht das komplette Notenmaterial zur Verfügung, das Schostakowitsch für die Uraufführung geschrieben hatte, darauf stützt sich die aktuelle Neuproduktion.
Die aus Russland stammende Filmregisseurin Angelina Nikonova wird mit Lady Macbeth von Mzensk erstmals im Musiktheater Regie führen. Wie sie im Gespräch erzählt, geht es ihr darum, die Psychologie der Figuren zu beleuchten, wobei Katerina im Mittelpunkt steht. Sie will die Geschichte aus Katerinas Perspektive erzählen, sieht sie – ebenso wie Sergej – als Opfer der Verhältnisse, ganz im Sinne Schostakowitschs, dessen schonungslose Schilderung sie zum Ausgangspunkt nimmt. Sie arbeitet daran, zur großen Kraft seiner Musik eine szenische Balance herzustellen, nicht sie zu verdoppeln oder gar zu übertrumpfen, sondern ihr mit
Genauigkeit und psychologischer Tiefenschärfe zu begegnen. Nach Karin Beiers Inszenierung von Schostakowitschs Die Nase steht erneut ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano auf dem Spielplan.