Salvatore Sciarrino: Venere e Adone

„Ich schwebe in der Finsternis in mich zurückgezogen. Die Stimmen. Ich lausche. Ich höre alles.“

Ein Beitrag von Janina Zell aus dem Journal Nr. 5 der Spielzeit 2022|23 über die Uraufführung Venere e Adone.

An meine erste Begegnung mit der Musik von Salvatore Sciarrino erinnere ich mich: Es war in den ersten Semestern meines Studiums. Neue Musik hatte bis dahin eine marginale Rolle in meinem vor Musik geradezu schwirrenden Leben gespielt. Eine Kommilitonin – wesentlich musikalischer als ich und mit einer dunklen Mezzo-Stimme ihre eigenen Wege gehend – wählte Sciarrinos einaktige Monooper Infinito nero (Das unendliche Schwarz) für ihr Vordiplom aus, während der Rest des Jahrgangs die populärsten Arien von Mozart, Puccini, Händel und Bizet rauf und runter sang und dabei von Rolle in Rolle schlüpfte, möglichst theatralisch, trotz konzertanter Setzung mit Klavier.

Für Sciarrinos Musiktheaterwerk traten neben der Mezzosopranistin sieben Musiker*innen auf die Bühne zur Pianistin hinzu. Stille. Neugier … und Skepsis. Wenige Augenblicke später: absolute Konzentration. Innerhalb von Sekunden zogen Sciarrinos Klänge den taghellen Saal und alle darin in ein unbekanntes Dunkel. Ein lichtbringendes Dunkel, das keinen Platz für Erwartungshaltungen und wertende Gedanken ließ und eine Öffnung unserer Wahrnehmung forderte wie ich es nie zuvor erlebt hatte. So können Ohren funktionieren? Und die Gedanken schweigen? So unwiderstehlich kann Musik Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schenken.

Salvatore Sciarrino brachte mein Hörerlebnis auf den Punkt, mit den Worten: „Die Öffnung der Sinne ist der Hintergrund meiner Musik.“ Ich würde ergänzen: Weit mehr als der Hintergrund ist es der Kern und Daseinsgrund seiner Musik und die größtmögliche Bereicherung unserer überreichen Musikkultur. Seine Klänge kommen aus der Stille. Sie kommen näher, bewegen sich und lösen sich in Dunkelheit auf. Ihre Natur ist das Sein und Nicht-Sein, das Entstehen und Vergehen – gleich aller Lebewesen in der ewigen Illusion von Leben und Tod. Es sind Klänge, wie sie die Menschen umgeben, eine naturnahe Musik, die unsere Sinne zaghaft und doch unausweichlich erweckt. Etwas wissenschaftlicher drückt dies Ulrich Tadday im Vorwort zu einer Monografie über den Komponisten aus: „Seine Musik bewirkt eine andere Art des Hörens, eine geänderte Wahrnehmung und ein neues Bewusstsein für die Wirklichkeit wie für sich selbst. Ihren Mittelpunkt bildet im traditionellen Sinne nicht mehr der Autor der Partitur, sondern der Hörer.“ Was nach reiner Theorie klingt, blieb für mich seit diesem Schlüsselerlebnis bei jeder Aufführung eines seiner Werke spürbar.

In den Werkstätten der Staatsoper entsteht das Modell einer Stadt: ein Element von vielen, das ganz in den Händen der Götter liegen wird. Foto: Michael Klaffke


Sein umfangreiches Musiktheaterschaffen – Venere e Adone ist die 15. Uraufführung dieser Gattung, der Sciarrino sich in den vergangenen 50 Jahren seines Wirkens verschrieben hat – kreist um Traditionsstoffe wie Lohengrin, Macbeth, Figuren der griechischen Mythologie (Amore e Psiche war 1973 sein Erstlingswerk) und nimmt sich zugleich moderner Mythen an wie der Dreiteiler Cailles en sarcophage mit Auftritten von Greta Garbo und Salvador Dalí. Seine Libretti, die er seit Vanitas (1981) selbstverfasst, sind dabei häufig ein Kondensat einer Vielzahl an Textquellen und streben nach einer nahtlosen Verschmelzung mit Szene und Musik. Im Zentrum stehen dabei weniger Geschichten, keine äußere Realität, sondern eine innere: Gleich einem Wissenschaftler seziert Sciarrino mit seinen Klängen Individuen und Situationen, zeigt das Innerste der Menschen, ihre Zerrissenheit zwischen Ängsten und Machtstreben, und stets wiederkehrend: zwischen Liebe und Tod.

So wird auch der Epilog von Venere mit den Worten eröffnet: „Chi trionfa, Amore o Morte?“ („Wer triumphiert, Liebe oder Tod?“) Und noch bevor sich der Wunsch, die Liebe möge siegen, manifestieren kann, schließen die Worte an: „Se Amor trionfa, ci sbrana tutti …“ („Wenn die Liebe triumphiert, zerreißt sie uns alle …“). Bevor wir zu diesen philosophischen Schlussversen gelangen, führt uns Sciarrino in seiner Musik einen kleinen Ausschnitt der Götter- und Menschenwelt in ihrem maßlosen Streben nach Schönheit und Jugend – und natürlich der Liebe – vor. Seine Klänge erzählen von Venus und Mars, die einst Amor zeugten. Amor, der nun den betrogenen Vater rächen soll, damit nicht länger der schöne Adonis an Venus’ lieblicher Seite weilt. Und zwischen den mächtigen Willen der Götter: Adonis, dem seine Liebe zu Venus zum Verhängnis wird. Tödlich verletzt bei der Jagd durch die Gewalt eines Ebers und die Macht der Götter, wird Adonis in der Mythologie zu einer blutroten Blume und lebt im ewigen Zyklus der keimenden und welkenden Vegetation weiter. So erzählt es auch Ovid im zehnten Buch seiner Metamorphosen und Shakespeare in seinem frühen Gedicht Venus and Adonis.


Sciarrino und der italienische Schriftsteller Fabio Casadei Turroni, der das Libretto gemeinsam mit ihm verfasste, haben eine weit weniger bekannte Venus und Adonis-Erzählung als Hauptquelle ihres Werkes gewählt: L’Adone von Giambattista Marino. Das 1623 in Paris erschienene Epos gießt die Liebesgeschichte in 45.000 metaphernreiche Verse, die von Federzeichnungen ergänzt werden.

Dass es für Sciarrinos Adonis keine Erlösung (oder Verdammnis zum ewigen Kreislauf der Natur) als Blume geben wird, lässt sich schon zu Beginn seines Musiktheaterwerkes erahnen. Zwischen den Szenen von Venus und Adonis und den racheschmiedenden Göttern hören wir stets die Stimme eines Wesens, das fremd, ausgestoßen und auf beunruhigende Weise doch zutiefst vertraut klingt: „Il Mostro“ („Das Ungeheuer“). Es kennt keine Zuneigung, keine Liebe, keinen Hass, sich selbst am allerwenigsten. Es wartet, unbekannt und todbringend, malträtiert von den Stimmen der Welt. Und sagt dabei viel Wahres über die Menschen, die es verabscheut. Denn was sich hier in Götternamen tarnt, das gesteht Sciarrino gleich vorweg: „Venus und Adonis stellt mit schlichtem Zynismus die unsterblichen Götter dar. Sie verkörpern die Parodie aller menschlichen Schwächen. Auch Adonis, armer Sterblicher, macht sich mit der Angeberei eines Halbwüchsigen lächerlich; in Wirklichkeit ist er ein Spielball in den Händen der Götter.“

Mehr noch als für seine naive Liebe scheint Sciarrino seinen Adonis für seine schier unerträgliche Schönheit und Jugend abzustrafen. Für Staatsopernintendant Georges Delnon, der bei dieser Uraufführung nach Fidelio und La voix humaine erneut im Großen Haus Regie führen wird, ist die unerwartete Auflösung der Geschichte bei Sciarrino unmittelbar mit ihrem Schöpfer verbunden: „Das Stück hat eine Moral, die Sciarrino wahrscheinlich abstreiten würde. Bestraft wird der Schönste, der eitle Adonis, der glaubte, die Götter meinten es ernst mit ihm.“ In diesem Sinne erzähle das Stück vor allem über die Arroganz der Schönheit und seine Auflösung „entspricht dem Wunschdenken der Desillusionierten“, so Delnon.

Ein Blick in die Biografie Salvatore Sciarrinos lässt den Geist des Künstlers erahnen. Sie beginnt mit den Worten: „Salvatore Sciarrino (Palermo, 1947) si vanta di essere nato libero e non in una scuola di musica.“ („Salvatore Sciarrino [Palermo, 1947] rühmt sich damit, frei geboren zu sein und nicht in einer Musikschule.“) Aus dem sizilianischen Süden, wo er privaten Musikunterricht erhielt, ging er in die italienischen Großstädte, Rom und Mailand. Dann kam die entscheidende Wende und er zog sich ins ländliche Umbrien, in das Städtchen Città di Castello, zurück, wo er noch heute lebt: „Wie viele Künstler, die sich einzig ihrer Arbeit widmeten, haben sich ins Abseits begeben!“ stellte der Komponist 1999 fest. „Und weil ich einer von ihnen sein wollte, machte ich an einem bestimmten Punkt meiner Existenz aus der Frage der Isolation eine methodische Entscheidung. Ich verließ die Metropole und suchte den Schatten.“ Ein Schatten, den man in seinen Werken allgegenwärtig spürt, sei es in fragilen Klängen oder Figuren wie „Il Mostro“, die aus der Einsamkeit heraus die Welt begreifen zu scheinen.