So haben die OpernTester „Lulu“ erlebt

Unsere OpernTester gehen in die zweite Runde. Das Format für junges Publikum lädt regelmäßig Besucher bis 30 Jahre ein, Oper, Konzert und Ballett zu testen und im Anschluss zu erzählen: Was hat gefallen, was nicht? Was ist hängen geblieben und welche Fragen blieben offen?

Lisa, Hanna und Amanda haben am 8. Februar 2017 die Hauptprobe der „Lulu“ besucht und das Stück von Alban Berg noch vor der Premiere getestet. Nachdem sie sich in der Pause untereinander und mit unserer Musiktheaterpädagogin austauschen und Eindrücke sammeln konnten, erzählen sie euch nun hier, wie sie die Oper erlebt haben: Wer ist Lulu? Was macht ihre Persönlichkeit aus?  Wie sind die Machtstrukturen in dem Stück? Sind ihre Männer naiv?

Diesen Aspekten sind die jungen Besucher nachgegangen – hier einige Auszüge aus ihren Berichten:

Der Gedanke an Zwölftonmusik mag manche Konzert-und Opernbesucher vielleicht etwas abschrecken, denn ein leichter, zugänglicher Konzertabend, bei dem man sich dem sinnlichen Genuss hingeben und in Emotionen mitschwelgen kann, ist wahrscheinlich nicht zu erwarten. So musste auch ich mir im Vorfeld ein wenig „in den Hintern treten“, um mich zu der vierstündigen „Lulu“ von Alban Berg aufzuraffen. (Lisa)

Am Mittwoch hatte ich gemeinsam mit zwei weiteren Operntesterinnen die Möglichkeit, während der Hauptprobe noch vor der Premiere in der Hamburgischen Staatsoper einen Eindruck der Neuproduktion „Lulu“ von Alban Berg zu gewinnen. Es war tatsächlich die erste Oper, die ich von Berg gesehen habe und dementsprechend gut, vorher in der Einführung einen Blick in seine Art der Komposition und auch in die Handlung werfen zu können. (Hanna)

Dass es eine ungewöhnliche Lulu ist, die Barbara Hannigan akrobatisch, fast tänzerisch spielt und traumwandlerisch singt, offenbart sich an diesem Abend bald. „Wir sind keine Kinder. Wir tändeln nicht. Wir leben“, erklärt Jochen Schmeckenbecher in der spröden Darstellung Dr. Schöns als selbstgefälliger Herr, der sich im Atelier zwischen den vielen Bildnissen Lulus ausbreitet und sie in dieser Konstellation nicht wie eine Femme fatale wirken lässt. Eher wie eine der von Marthaler inszenierten jungen Frauen Hórvaths, eine Elisabeth aus Glaube Liebe Hoffnung, zwischen Männern und ihren Zuschreibungen gefangen: „Jetzt bin ich ja nur mehr ein Tier“. (Amanda)

Was mir gleich zu Beginn auffiel, war, dass  ich mich mehr als sonst gleichzeitig auf das Bühnengeschehen, den Text und die Musik konzentrieren musste, um auch wirklich alles mitzubekommen. Einerseits lag dies daran, dass die Geschichte um Lulu keine ist, die ich schnell erahnen konnte (wodurch ich meinen Fokus dann für eine Weile mehr auf die Musik hätte richten können, ohne von der Handlung etwas zu verpassen) und andererseits daran, dass es mir vorkam, als redeten die vielen Personen, die von Beginn an auf der vielgestaltigen Bühne waren, laufend aneinander vorbei. Verstärkend kam hinzu, dass die Musik zum Teil ganz andere Gefühle zu erwecken schien als der jeweilige Text, was mich manchmal aufhorchen ließ, da ich diese gegensätzliche Art des Zusammenwirkens in dieser Form noch nicht erlebt habe. (Hanna)

Ich brauchte etwas Zeit, um mich auf die Musik und die Inszenierung einzustellen. Alle Figuren auf der Bühne schienen zwar miteinander und doch aneinander vorbei zu reden. Dies fand sich auch in der Ebene des Spiels, indem die Figuren nicht miteinander, sondern voneinander isoliert agierten, z.B. machte Lulu während eines „Gesprächs“ permanent Purzelbäume. (…) Stattdessen schienen Lulu, ihre Liebhaber und auch die Musik jeder für sich zu erzählen, ohne dabei wirklich auf das Handeln oder das Gesagte des Gegenübers einzugehen. Dazu war das Handeln besonders Lulus verzerrt und dem Handeln einer „natürlichen Person“ entfremdet, indem sie unentwegt skurrile, synthetische, unnatürliche Bewegungsabläufe vollzog (…). Die Figur erschien dadurch einerseits kindlich verspielt und naiv, wozu auch das Kostümbild beitrug (…). Andererseits schien sie sich ihrem männlichen Gegenüber stets zu entziehen, nicht zu erreichen und festzuhalten zu sein, was sie machtvoll und selbstbestimmt erscheinen ließ. (Lisa)

Anna Viebrocks kongeniale Ausstattung kommt besonders zur Geltung, als der erste Gatte stirbt.(…) Zum Ende des Aktes wird deutlich, dass Lulus Kampf auch ein Klassenkampf ist, einer der Zwänge. Wie frei die anderen sie auch wähnen, weiß sie um ihren Käfig. Barbara Hannigans nachlässige Angriffslust, ihre körperliche und stimmliche Verausgabung sind beeindruckend. „Er weint! Der Gewaltmensch weint! Jetzt gehen Sie aber bitte!“ An der Wippe, auf der sie Dr. Schön den Brief an seine Verlobte diktiert, wirkt er plötzlich verloren. Das Ende schlägt ihm in den Magen, die Rollen vertauschen sich, das Tier beißt zurück. So klagt er auch bald: „Das mein Lebensabend! Die Pest im Haus!“ (Amanda)

Die Namensgeberin der Oper, Lulu, besitzt etwas in ihrer Art, was für die Männer um sie herum zum Verhängnis wird. Sie alle werden wohl mehr von Etwas in ihrem Charakter als ihrer Person angezogen, sodass ihr jeder der Verehrer einen anderen Namen gibt und es nie den Anschein macht, als ginge es in diesen Beziehungen um die wahre Lulu. Diese ist in gewisser Weise ein „anderes Wesen“ und schwer greifbar. Sie wirkt unbefangen, unverfälscht und fast ein wenig ungezähmt – aber nicht so aufgesetzt, als dass man offensichtlich sagen könnte, ihr Verhalten sei reine Berechnung. Dennoch würde ich sie nicht so sehen, dass sie sich ihrer anziehenden Natürlichkeit scheinbar nicht bewusst ist, sondern ihr vielleicht sogar eine bestimmte Genugtuung unterstellen, die sie beim Beobachten der Männer empfindet. Barbara Hannigan hat mich in dieser Rolle voll überzeugt, da sie die Einzigartigkeit der Lulu auf ihre Weise toll zur Geltung bringt. (Hanna)

Als drei Gestalten im Wohnzimmer der erneut verheirateten Lulu Kniebeugen machen, sickert der Marthalerische Slapstick ein. Etwas hölzerner als üblich, aber man muss ihnen auch zugutehalten, dass sie mehrstimmig „Wer hat sie nicht ursprünglich heiraten wollen“ singen müssen. In der holzvertäfelten Maison schreitet die Leerstelle Lulu zur Tat. Sie schießt und sieht ihren Gönner verbluten. Sie spricht und verhallt doch ungehört. Als kokettiere sie mit dem patriarchalen Prinzip Femme fatale, das Existenz, Wesen und Handlungen einer Frau rein auf die sie begehrenden Männer bezieht. (Amanda)

Ich als Zuschauerin war zu Beginn sowohl gefesselt, als auch etwas erschlagen von dem Nebeneinander von dem Gesagten verschiedener Figuren durch den Text, durch die Musik aber auch durch das gestische Spiel. Spätestens im zweiten Akt war diese Überforderung jedoch verschwunden, vielleicht auch da sich die Musik veränderte, intimer wurde und anfing – wenn dies auch vielleicht nicht unbedingt Ziel der Zwölftonmusik ist – mich emotional mitzuziehen und zu berühren. So wurde nach der anfänglichen Vielstimmigkeit in immer zarteren Tönen erzählt, besonders gegen Ende des zweiten Akts, als die Begleitung durch das Orchester endete und stattdessen eher kammermusikalische Töne in Begleitung durch Klavier und Solovioline erklangen. (Lisa)

Der dritte Akt ist nur als Fragment erhalten. Alban Berg unterbrach die Arbeit, um für die an Kinderlähmung verstorbene Tochter Alma Mahlers (der im Übrigen zeitlebens der Titel Femme fatale des 20. Jahrhunderts anhaftete) ein Violinkonzert zu komponieren. Bevor er „Lulu“ vollenden konnte, brachte ihn eine Blutvergiftung ums Leben. Marthaler beschränkt die Musik des Particells auf einen Pianisten und eine Geigerin. Die Bühne ist kalt ausgeleuchtet, Lulus gelegentliche Prostitution eine Hampelei zwischen weißen Tischdecken. Eine Trostlosigkeit und Erschöpfung wohnt in der Stille dazwischen. Als Lulu und die Gräfin schlussendlich dem Frauenmörder zum Opfer fallen, erklingt Bergs Violinkonzert mit dem Untertitel „Andenken an einen Engel“. Warum die vier Frauen um Lulu dazu eine Pantomime aufführen, bleibt im Dunkeln. Lehnt sich dieser Kunstgriff an die Uraufführung unter Bergs Witwe Helene an? Nach drei starken Akten einer wunderbaren Neuinszenierung erscheint das wie ein Bruch mit der bis dahin im Reduzierten wirkenden Darstellung, die in ihrer Form nicht bis zum Ende ausgehalten werden kann. (Amanda)

Ein Opernabend mit Lulu ist daher sowohl kognitiv herausfordernd, als auch emotional mitreißend. Es lohnt sich daher durchaus, den „Hintern hochzukriegen“ und die Freude an Neuer Musik auf sich zukommen zu lassen. (Lisa)

Schön, dass ihr bei uns wart! Du willst auch OpernTester werden? Dann bewirb dich unter folgender Email-Adresse: schausdiran@staatsoper-hamburg.de