Vincenzo Bellini: Norma
Am 26. Dezember 1831 hatte die Oper „Norma“ des Komponisten Vincenzo Bellini und des Librettisten Felice Romani an der Mailänder Scala ihre Uraufführung und wurde zum Welterfolg.
Vincenzo Bellini
1801 wurde Vincenzo Bellini in Catania/Sizilien geboren. Als er 1835, noch nicht 34-jährig, in Puteaux bei Paris starb, war er einer der bekanntesten Opernkomponisten seiner Zeit. Zusammen mit Rossini und Donizetti führte er die italienische Oper aus der Zeit des feudalen 18. Jahrhunderts in das bürgerliche 19. Jahrhundert, fand neue Ansätze und Weiterschreibungen der alten Formen und verhalf ihr auf diese Weise zu neuer, weltweiter Bedeutung. Aus der Ästhetik des Klassizismus kommend wurde Bellini so zu einer prägenden Künstlerfigur der italienischen Romantik. Sein erster großer Erfolg, „Il Pirata“ (Mailand, 1827), wird gemeinhin als Beginn der romantischen italienischen Oper verstanden.
Sängerinnen
„Die Figur der Norma“, so Bellini im September 1831 an die berühmte Sopranistin Giuditta Pasta (1797–1865), „ist besonders geeignet für Euren enzyklopädischen Charakter.“ Und tatsächlich geben die Partien in Bellinis „Norma“, allen voran die Titelpartie, einer Sängerin alle Möglichkeiten, ihr vielfältiges Können zu zeigen. Das damals für diese Belcanto-Partien übliche Stimmfach des „soprano sfogato“ fordert sowohl Höhe als auch Tiefe, sowohl Beweglichkeit als auch Dramatik – und dem entspricht die Bandbreite der in der Rolle dargestellten Leidenschaften und Gefühle. Nicht umsonst werden diese Werke der italienischen Romantik als „Primadonnen-Opern“ bezeichnet, hängt doch die Wirkung dieser so sehr von der Melodie ausgehenden Musik in ganz besonderer Weise vom Momentum der individuellen Gestaltung der Sängerinnen und Sänger ab. Wie schon die Amina der ebenfalls 1831 uraufgeführten „La sonnambula“ schrieb Bellini die Titelpartie seiner „Norma“ der berühmten Sopranistin Giuditta Pasta „auf die Stimme“. Sie sang die Uraufführungen beider Werke und brachte sie in ihrer Interpretation an die Opernhäuser in Wien, London und Paris. Weitere berühmte Sängerinnen wie Maria Malibran, Giulia Grisi oder Lilli Lehmann führten diese enge Verbindung von Partie und Sängerin fort. Im 20. Jahrhundert wiederum, als die Handlungen der romantischen „melodrammi lirici“ im Lichte der späteren realistisch-veristischen Erzählweisen als seltsam und unwahrscheinlich empfunden wurden, waren es vor allen Dingen die Sängerinnen – Künstlerinnen wie Rosa Ponselle, Maria Callas, Renata Scotto, Joan Sutherland oder Montserrat Caballé –, die Bellinis Oper „Norma“ durch ihre Verkörperung der Titelpartie einem Publikum auf der ganzen Welt nahe brachten.
Giuditta Pasta, Giulia Grisi, Lilli Lehmann und Maria Callas als Norma
Sujet
Ungefähr im Jahr 50 v. Chr. ist die Handlung der „Norma“ angesiedelt, im finsteren Wald des von den Römern besetzten Galliens. Bellini und Romani folgten damit der romantischen Faszination für die Welten des nördlichen Europas. In der unzivilisierten Natur und den „Barbaren“ entdeckten sie Unverbildetheit und Unmittelbarkeit, im Nebel und Dunkel der Landschaften Raum für Schauer und (Alb-)Träume. In „Norma“ nun trifft diese bedrohlich-faszinierende Welt der Gallier auf das dekadente, imperiale, glanzvolle Rom. Zentrum dieses Aufeinandertreffens ist die Protagonistin selbst – Norma: Sie, das geistige Oberhaupt der Gallier, liebt Pollione, den Anführer der römischen Besatzungsmacht. Zwei Kinder hat sie bereits von ihm, die sie, als Priesterin zur Jungfräulichkeit verpflichtet, vor der Welt versteckt. Als Pollione sich in eine Jüngere verliebt und die Gallier drängen, endlich gegen die feindlichen Besatzer loszuschlagen, nehmen die Ereignisse ihren Lauf …
Norma
„Ich bin die Schuldige“, klagt Norma sich am Ende selbst an. „Schuldig, über jede menschliche Vorstellungskraft hinaus.“ Wohl wissend, dass sie damit Tod und Scheiterhaufen erwartet. So zerschlägt sie den Knoten, der sich im Verlauf der Handlung immer fester zugezogen hat. Und verweist damit auf die Unversöhnlichkeit der Gewalten, die sie umgeben. Wie viele andere Heroinen der (romantischen) Oper scheitert auch sie an der Feindseligkeit ihrer männlich geprägten Lebenswelt, die keinen Ausweg bietet als den selbst gewählten Tod. Allerdings tritt uns mit der Figur der Norma keine der für das 19. Jahrhundert typischen männlichen Projektionen des Weiblichen entgegen – weder das Bild der kindlich-verträumten „femme fragile“ noch das der erotisch auftrumpfenden „femme fatale“. Verwandt den Heldinnen der klassischen Tragödie ist die Norma in dieser Oper eine Frau, die Opfer wird, aber zu kämpfen weiß, die Macht besitzt und missbraucht, deren Liebe und Duldsamkeit umschlagen können in Zerstörung und Hass, die handelt und Entscheidungen trifft, fehlerhaft und unvollkommen, die Entscheidungen ändert und revidiert, im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung. Eine Frau, die unendlich einsam ist in dieser kriegerischen, von männlicher Moral und Dominanz geprägten Welt. Den Frieden, den Norma bereits in ihrer Auftritts-Cavatina „Casta diva“ erbittet, erhofft sie sich daher auch höchstens noch vom Mond: „Verbreite du auf der Erde jenen Frieden, den du am Himmel herrschen lässt.“
Musik
Geliebt und geschmäht wegen der „italianità“ seiner Musik, ist Vincenzo Bellini sein Ruf als einer der größten Melodiker der Operngeschichte unbenommen. Dass er darüber hinaus eine außerordentliche Fähigkeit hatte, die „langen, langen, langen Melodien“ (Giuseppe Verdi) mit einem harmonischen Untergrund zu versehen, der nicht nur atmosphärisch ganz genau temperiert ist, sondern auch ungeheuer feinsinnige und musikdramatisch aussagekräftige Wendungen enthält, wurde auch von seinen Zeitgenossen häufig nicht wahrgenommen. Denn das, was Bellini in der Melodieführung seiner Protagonisten erreicht, ist eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die Theodor W. Adorno als „künstlichen Naturlaut“ beschrieb, während es Heinrich Heine dazu brachte, den Komponisten desselben als einfältiges Genie darzustellen. Beinahe liedhaft folgt dieser musikalische Ausdruck zunächst der Sprache – für die Bellini mit dem Librettisten Felice Romani (1788–1865) einen beinahe ebenbürtigen Künstler an seiner Seite hatte. Von der Sprache ausgehend, ihren Klang, ihre Bedeutung und den emotionalen Gehalt des Gesagten in Acht nehmend, beginnt die Melodie zu erzählen. Ist häufig ähnlich, jedoch nie gleich. Ergießt sich in Schmuck und Koloraturen dann, und nur dann, wenn dies zur emotionalen Situation des Dramas und der Figur etwas sagt. Malt so Strich für Strich und immer weiter das Seelengemälde einer Figur, der wir mehr begreifend als verstehend folgen. Dabei ist Bellini in der Anlage seiner Werke und Figuren Musikdramatiker durch und durch. Nur dass diese Dramatik kaum einmal drastisch wird, nie das Maß oder die Form verliert, nie vergisst zu erzählen. In den Melodien entstehen die Innenwelten und Schicksale dieser Figuren, durchlaufen die Höhen und Tiefen ihres Lebens, verweben sich miteinander und enden anders, als sie begonnen haben. Und wir Zuschauende, Zuhörende atmen mit, hören Dinge, die uns nah, übernah erscheinen und uns doch in eine andere Welt hinein führen. Waren es die Melodien der „Norma“, die Robert Musils Zögling Törleß hörte, mit seinen Eltern zu Besuch in einer kleinen italienischen Stadt? „Er empfand die Leidenschaft der Melodie wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen.“
Beinahe 100 Jahre …
Wenn Bellinis „Norma“ nun in der Inszenierung von Yona Kim und unter der Musikalischen Leitung von Matteo Beltrami am 8. März 2020 in Hamburg ihre Premiere hat, sind seit der letzten Premiere einer Inszenierung dieses Werkes auf der Hamburgischen Opernbühne beinahe 100 Jahre vergangen!
Angela Beuerle (aus dem Journal #4 der Spielzeit 2019/20)