Wohlklang des Scheiterns – Antihelden auf der Opernbühne
Faust-Szenen, Eugen Onegin und Falstaff in hochkarätiger Besetzung
Mit Szenen aus „Goethes Faust“, „Eugen Onegin“ und „Falstaff“ stehen im September drei Werke auf dem Spielplan der Staatsoper, deren Titelhelden alles andere als strahlende Sieger sind. Umso mehr haben sie die Komponisten Schumann, Tschaikowsky und Verdi zu faszinierender musikalischer Gestaltung inspiriert, die wir in hochkarätiger Besetzung neu erleben können.
Faust: Die rettende Liebe ist weiblich
Wie bei der Premiere steht Generalmusikdirektor Kent Nagano bei Schumanns „Faust-Szenen“ nach Goethes großem Weltenspiel um Schuld und Sühne, Gott und Teufel am Pult. Die Partie des Faust übernimmt mit dem Bariton Christian Gerhaher erneut einer der profiliertesten Sängerdarsteller der Gegenwart. Für Schumann ist er prädestiniert: Seit 2019 entstand das Mammutprojekt einer Gesamtaufnahme aller Schumannlieder. Wort und Musik kongenial zu gestalten, gehört zu den herausragenden Fähigkeiten des Sängers. Sein Debüt an der Staatsoper gibt als Ariel/Pater Ecstaticus/Engel der Tenor Benjamin Bruns, er wird in dieser Saison auch als Florestan in „Fidelio“ zu erleben sein.
Schumann arbeitete an den Fragment gebliebenen drei „Abteilungen“ seines „Faust“ ein ganzes Jahrzehnt von 1844 bis 1853. Ursprünglich als Opernplan entworfen, entschied sich der Komponist für eine Mischform aus Oratorium und Konzert. Aktuell werden die „Faust-Szenen“ aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen konzertant zu erleben sein. Die erste der drei Abteilungen erzählt die Gretchentragödie aus „Faust 1“. In der zweiten Abteilung (nach „Faust 2“) erleben wir das Erwachen Fausts – gereinigt von Schuld nicht durch Sühne, sondern durch Vergessen. Diese Gnade gewährt ihm Schumann nur kurz: Nach Ariels Sonnenhymnus folgt bereits mit „Mitternacht“ der Aufritt der vier grauen Weiber Mangel, Schuld, Not und Sorge und schließlich Erblindung und Tod des Titelhelden. Schumann widmet den größeren Teil seines Werkes dem alternden, scheiternden Faust, der sich blind – und verblendet – auf dem Höhepunkt seiner Macht glaubt, während bereits sein Grab ausgehoben wird. Gespenstisch aktuell und prophetisch mutet es an, wie Faust durch menschenverachtende Eingriffe in die Natur den eigenen Untergang besiegelt. Die dritte Abteilung, 1849 zu Goethes einhundertstem Geburtstag erstmals öffentlich aufgeführt, gestaltet mit der Schlussszene aus „Faust 2“ Gretchens und Fausts Verklärung und Aufstieg in die Ewigkeit. Nicht Gottvater, nicht „der Herr“, mit dem Mephisto einst gewettet hatte, sondern die Gottesmutter, die „Mater Gloriosa“, schwebt hier über allem und weist den Seelen den Weg. So verknüpft sich die rettende, ewige Liebe mit dem weiblichen Prinzip: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Der Chorus Mysticus intoniert die Schlussverse beginnend mit „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …“. Nach Schumann hat erst Gustav Mahler in seiner achten Symphonie eine kongeniale musikalische Gestaltung dieses Textes gefunden. Für ihn begann hier „das Universum zu tönen und zu klingen“.
Eugen Onegin: Ein Dandy verpasst das Leben
Mit Pavol Breslik als Lenski gibt in „Eugen Onegin“ einer der in den letzten Jahren international erfolgreichsten Tenöre sein Hausdebüt, nachdem er in Hamburg bereits beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie zu erleben war. Ähnlich wie Robert Schumann setzte sich Peter Tschaikowsky bewusst vom traditionellen Operngenre ab indem er „Eugen Onegin“ die Bezeichnung „lyrische Szenen“ gab. Basierend auf Alexander Puschkins gleichnamigem Versroman gestaltete der Komponist ein inneres Seelendrama,
„Eugen Onegin“ in der Inszenierung von Adolf Dresen Foto: Brinkhof/Mögenburg
einen tiefenpsychologischen Blick besonders auf die junge Tatjana und den Titel-helden Onegin. Fernab vom Pomp und Repräsentationsbedürfnis des späten 19. Jahrhunderts wollte Tschaikowsky das Werk ursprünglich am liebsten nur in kleinem, privaten Kreis präsentieren. Der Stoff um den dandyhaften Onegin, der die Tiefe von Tatjanas Gefühlen für ihn nicht erkennen will und schließlich als Zerrissener am Leben scheitern wird, ergriff Tschaikowsky zutiefst und unmittelbar, er bezeugte, „dass diese Musik sich aus mir ergossen hat“. Onegin versäumt aus Verantwortungslosigkeit und Oberflächlichkeit die Chance auf das eigene Glück, das Tatjana ihm geboten hätte, und zerstört damit auch das Leben seines Freundes Lenski, den er im Duell tötet. Adolf Dresen übernahm mit dem Hamburger „Eugen Onegin“ 1979 seine erste Opernregie. Er arbeitete die Modernität der Charaktere heraus und verabschiedete sich von der Tradition, das Werk als große Ausstattungsoper zu präsentieren, als die es entgegen Tschaikowskys Intentionen seit der Uraufführung 1879 in Moskau meist auf die Bühne gebracht wurde. Dresens Inszenierung ist längst zum Klassiker des Repertoires avanciert und bietet immer wieder ein stimmungsvolles Forum für neue Sänger*innen. Neben Pavol Breslik als Lenski übernimmt Olesya Golovneva erstmals die Tatjana. In der Titelpartie steht wieder das Hamburger Ensemblemitglied Alexey Bogdanchikov auf der Bühne.
Falstaff: Ist alles Spaß auf Erden?
Sind Faust und Onegin tragisch am eigenen Schicksal Scheiternde, so ist Falstaff das genaue Gegenteil: Genuss, Lebensfreude, der Rausch im wörtlichen Sinne sind Falstaffs Koordinaten. Um sich den ersehnten Zustand immer wieder neu zu erschaffen, braucht er Alkohol und Geld. Beides hofft er bei zwei reichen Damen Windsors zu ergattern: Alice Ford und Meg Page. Deren gesittete Empörung ist nicht frei von Faszination durch den vitalen, sinnenfrohen Außenseiter, der noch dazu von Adel ist, ein italo-britischer Seelenverwandter des Baron Ochs auf Lerchenau aus dem „Rosenkavalier“, wenn man so will. Verdi und sein kongenialer Textdichter Arrigo Boito entfalten im letzten Werk des seinerzeit weltweit berühmtesten und bei der Uraufführung 1893 fast 80-jährigen Komponisten ein Satyrspiel voller Witz und Raffinesse in einem musikalischen und szenischen Tempo, das es in sich hat. Wie auch all seine anderen, meist tragischen Opern ist Verdis „Falstaff“ geprägt von tiefster Menschlichkeit, entlarvt die Schwächen und Eitelkeiten aller Beteiligten, um sie am Ende doch in einer gemeinsam angestimmten Fuge zu vereinen, auf den Text „Alles ist Spaß auf Erden“. In diesen letzten Worten des Opernkomponisten Giuseppe Verdi steckt eine faszinierende Lebensphilosophie, an der wir durch den Antihelden „Falstaff“ teilhaben dürfen. Die Titelpartie übernimmt erstmals in Hamburg Pietro Spagnoli, der hier bereits als Don Alfonso in „Così fan tutte“ zu Gast war. Ihr Hamburgdebüt gibt Anna Princeva in der Partie der Alice Ford.
Drei Titelhelden, die man kaum als typische Siegertypen bezeichnen kann. Drei Werke, die eher vom Scheitern als vom Siegen erzählen. Schumann, Tschaikowsky und Verdi entstammen auf sehr unterschiedliche Weise der Welt der Romantik des 19. Jahrhunderts, die sich mehr für das Dunkle, die Schattenseiten des Menschseins interessierte als für den Erfolgskurs der „Winner“. Drei unterschiedliche Facetten des reichen Repertoires der Staatsoper Hamburg, gestaltet von internationalen Sängerpersönlichkeiten, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Chor der Hamburgischen Staatsoper, die in diesen Wochen an der Dammtorstraße zu erleben sind.
Von Ralf Waldschmidt, erschienen im journal Nr. 1 der Spielzeit 2021/22