Barrie Kosky über „Agrippina“

Agrippina realisierte der aus Melbourne stammende Regisseur bereits 2019 bei den Münchner Osterfestspielen. Seit der Spielzeit 2012/13 ist Barrie Kosky Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin – die Opernwelt kürte das Haus 2013 zum „Opernhaus des Jahres“, ihn 2016 zum „Regisseur des Jahres“. Er realisierte international unzählige Schauspiel- und Opernproduktionen, u. a. an der Bayerischen Staatsoper, dem Glyndebourne Festival, an der Oper Frankfurt, Dutch National Opera, Opernhaus Zürich, Royal Opera House oder den Bayreuther Festspielen. Mit Händels Oper inzseniert Barrie Kosky zum ersten Mal an der Staatsoper Hamburg. Der Regisseur über die Rolle der Frau in der Oper und die Figur „Agrippina“.

Über Agrippina
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir uns mit der Agrippina von Kardinal Grimani und Händel beschäftigen. Es gibt natürlich eine historische Agrippina, über die wir viele Informationen haben – und dabei dürfen wir nie vergessen, dass diese historische Figur immer nur von Männern beschrieben wurde, nie von Frauen oder aus ihrer eigenen Perspektive. Wir haben dieses Bild von einer monströsen Frau, aber war sie monströser als die Männer? Wir wissen es nicht. Sie ist eine sehr widerspruchsvolle Figur. An vielen Stellen würde man eine triumphale Arie, eine Wutarie, eine Rachearie erwarten, in D-Dur, C-Dur – aber all das kommt nicht! Stattdessen hören wir diese sehr merkwürdigen Arien, manchmal in Moll, oft in einer seltsamen, brüchigen Emotionalität. Agrippinas längste und wichtigste Arie in dem Stück ist mit „Pensieri, voi mi tormentate“ eine Arie, in der sie von ihren inneren Gefühlen geplagt ist. Das ist ein Schlüssel: Händel und sein Librettist hatten ein Interesse, eine öffentliche Agrippina zu zeigen, aber auch eine private Agrippina. Und diese private Agrippina ist nicht nur eine Machtfigur, nicht nur eine Intrigantin, nicht nur eine Mörderin. Sie ist manchmal unsicher, sie hat Angst vor der Welt, vor ihren Gefühlen, hat Zweifel über sich selbst. Sie verliert sich auch in ihrer Manipulationswelt und in ihrem Spiel.

„Es ist unvorstellbar, in einer deutschen, russischen oder französischen Oper des 19. Jahrhunderts eine Frau wie Agrippina zu finden.“ (Foto: Hans Jörg Michel)

Über Frauen in der Oper
Auch im griechischen Theater sind die Frauenfiguren am interessantesten, auch wenn sie damals von Männern gespielt wurden. Elektra, Antigone, Klytämnestra, an diese Charaktere erinnert man sich. Man erinnert sich an Shakespeares Frauen, und an die Frauenfiguren im Barocktheater, in der Barockoper, dann auch bei Mozart – Mozarts Frauen sind unglaublich. Und dann ist etwas schrecklich schiefgegangen. Es ist schwer zu sagen, wann genau. Doch während des ganzen 19. Jahrhunderts sind die Frauen gefesselt und in Schubladen gesteckt. Mit Ausnahmen natürlich. Offenbachs Operettenwelt ist eine solche Ausnahme. Da sind die Frauen emanzipierter, zehnmal klüger als die Männer und stellen alles zur Diskussion. Ähnlich wie in der Barockoper. Aber in der Oper im 19. Jahrhundert sind die Frauen plötzlich entweder krank, verrückt, sterbend, oder alles zusammen. Es ist unvorstellbar, in einer deutschen, russischen oder französischen Oper des 19. Jahrhunderts eine Frau wie Agrippina zu finden. Die Frauen bei Verdi sind fast alle
Opfer, der Wagner-Kosmos ist mit Blick auf die Frauen natürlich etwas sehr Spezielles. Und die Idee, dass eine Frau auf der Bühne ironisch sein kann, ist komplett verloren gegangen. Die Selbstironie kommt dann erst später zurück, im 20. Jahrhundert, Ende des 19. Jahrhunderts.

Über das Ende
Nerone kann Kaiser werden, Poppea und Ottone können zusammen sein und Agrippina sagt: „Jetzt kann ich glücklich sterben.“ Das ist ihr letzter Satz in dem Stück. Ich möchte, dass man am Ende mit Agrippina beschäftigt ist; aber in einer Weise, dass sie stellvertretend für alle Menschen steht, die so ein Leben führen. Dieses öffentlich-private Manipulationsspiel. Es ist erschöpfend. War es das alles wert? Ist sie zufrieden? Ist das ein Sieg? Und kann daraus Harmonie folgen? Was ist der Geschmack des Sieges für so einen Menschen? Ich denke nicht, dass er süß ist.

Zitate von Barrie Kosky: Programmheft „Agrippina”, Bayerische Staatsoper München, 2019