„Viva il caro sassone!“ – die Premiere von „Agrippina“ im Jahre 1709

So feierte das begeisterte Publikum den „lieben Sachsen“ Georg Friedrich Händel anlässlich der Premiere der Oper „Agrippina“ am 26. Dezember 1709 im Teatro San Giovanni Grisostomo in Venedig. John Mainwaring, Händels erster Biograph, schrieb: „Jedermann war, durch die Größe und Hoheit seines Stils, gleichsam vom Donner gerührt: denn man hatte nimmer vorher alle Kräfte der Harmonie und Melodie in ihrer Anordnung, so nahe und so gewaltig miteinander verbunden gehöret.“

Georg Friedrich Händel verließ Hamburg (siehe nebenstehenden Artikel), weil er sich von Italien Anregung für seine Karriere versprach. Die italienische Sphäre war schließlich die bei Weitem fruchtbarste in Europa, Voraussetzung dafür, alle Erfolg versprechenden Strömungen in der Oper kennenzulernen und neue Wege in Kunst und Musik. Man konnte nur dort die wichtigsten Vertreter in Kirche und Staat, die die Zügel in der Hand hatten, die einflussreichsten Impresarios und Agenten kennenlernen und kontaktieren, um sein Talent künstlerisch und finanziell gewinnbringend anzulegen. Händel wurde nach Rom empfohlen, von dort nach Neapel, wo er den musikbegeisterten Vizekönig und Diplomaten Kardinal Vincenzo Grimani kennenlernte. Der war Venezianer, belieferte Händel mit dem Libretto zu Agrippina und arrangierte in Venedig im familieneigenen Teatro Grisostomo, dem heutigen Teatro Malibran, die glanzvolle Uraufführung.

„Agrippina“ an der Staatsoper Hamburg in der Inszenierung von Barrie Kosky. (Foto: Hans Jörg Michel)

In Neapel wurde das Werk im Februar 1713 im Teatro San Bartolomeo gespielt, in Hamburg im Theater am Gänsemarkt gab es zwischen 1718 und 1722 30 Aufführungen. Bemerkenswert in einer Zeit, in der normalerweise Opern eine Serie lang am Uraufführungsort gespielt wurden und dann nie mehr. Agrippina (um historisch genau zu sein: die „jüngere“), in dritter Ehe mit ihrem Onkel Claudius verheiratet, wollte, obwohl Claudius‘ Sohn Britannicus ersten Anspruch hatte, unbedingt ihren Sohn Nero auf den Thron bringen, was ihr auch durch dessen Adoption durch Claudius zu gelingen schien. Mit Beginn der Oper erfährt Rom vom Tod des Claudius auf hoher See, und Agrippina wirft die Machtmaschinerie an, um Nero zu installieren. Die Nachricht von Claudius‘ Tod war aber eine Falschmeldung, der Feldherr Ottone rettete seinem Kaiser das Leben und soll nun seinerseits mit dem Thron Roms belohnt werden. Und nun beginnt das, was die barocke Opera seria auszeichnet, ein raffiniert arrangiertes Intrigengespinst, für dessen genaue Darlegung hier der Platz fehlt und das ohnehin nur in der Oper so richtig genossen werden kann. Nur soviel: dieses Spiel endet mit der Erschöpfung aller an der Intrige Beteiligten, Täter und Opfer. Keiner hat seine Ziele erreicht oder auch alle. Und sie sind alle mehr oder weniger zufrieden. Die Intrige stolpert hier quasi über sich selbst, trocknet aus und rettet sich ins genretypische lieto fine, dem Happy end der Barockoper.

Die Intrige ist einerseits eine realistische Zeichnung der politischen Ränkespiele an Herrscherhäusern und Stadtstaaten in Antike und Neuzeit. Andererseits ist sie aber unverzichtbares Ingredienz der Dramaturgie eines spannenden Theaterstücks zwischen sex and crime. Einer Intrige fällt nur der zum Opfer, der Teil des Intrigensystems ist, der also die Sprache des intriganten Umgangs kennt, um überhaupt den Raum der Intrige betreten zu können. Einmal im Raum, kann er aber nicht hinter die Spiegel schauen, aus denen eben dieser Intrigenraum gebaut ist. Der Bär, den Kleist in seinem Essay Über das Marionettentheater einen Fechtkampf gegen einen erfahrenen Kämpfer gewinnen lässt, hat einen entscheidenden Vorteil: Er weiß nicht, was eine Finte ist, nämlich die Kampfbewegung und -strategie, die konstitutiv für das Fechten ist. Erkennt er eine solche nicht, nimmt er nur die Wirkungsstöße wahr, die ernsthaft gefährlichen. In der Intrige spielen sich Schemata ab, die zunächst einmal als quasi „kriegerische“ Aktions-Reaktionsvorgänge gesehen werden können, jedoch auf der jeweiligen Seite der Akteure auch psychologische Dynamiken hervorrufen und in Gang setzen. Die Opera seria des Barock folgt zunächst den Affektformeln Liebe, Wut, Leidenschaft, Freude, Hass, Trauer, wobei Affekt als Zustand des Gemüts zu sehen ist, also etwas Statisches.

Agrippina muss ihren Sohn Nero unbedingt auf den Thron bringen. Franco Fagioli hier in der Rolle des Nero. (Foto: Hans Jörg Michel)

Entsprechend folgen die Figuren diesem Gefühlsschema, denen auch der entsprechende musikalische Ausdruck folgt. Doch die Intrigenbewegung zwischen den Figuren sorgt dafür, dass sich in das scheinbar Unverrückbare zarte Schwingungen einstellen, Erschütterungen und Oszillationen, die dazu geeignet sind, den Ausbruch/Ausdruck einer momentanen Emotion zur vielschichtigen Psychologie zu erweitern und in die scheinbare Berechenbarkeit einer Figur „Fehler“ zu injizieren. Doch das ist im wahren Sinn des Wortes noch Zukunftsmusik, die hier aber schon anklingt. Doch das Barock hatte noch keinen Begriff von und kein Interesse an veritabler Aufklärung. Im Gegenteil: das Barock liebte es, sich verwirren zu lassen, genoss es geradezu, Systematiken nicht mehr zu durchschauen, berauschte sich an der überbordenden Unüberblickbarkeit, an verschachtelten Vielschichtigkeiten von Plänen, Täuschungen, realen oder vorgetäuschter Allianzen. Unnötig darauf hinzuweisen, dass Moral, Einsicht, Wertorientierung oder Empathie das Intrigenfeld nicht betreten durften.

„Man verliert hoffnungslos den Überblick ‒ zum eigenen größten Vergnügen.“ (Foto: Hans Jörg Michel)

Von Tirso de Molina stammt das Theaterstück Don Gil von den grünen Hosen, in dessen Verlauf spätestens nach einer halben Stunde jeder Zuschauer nicht die geringste Chance mehr hat, den Verkleidungen und Plänen der aufeinandertreffenden Figuren zu folgen. Man verliert hoffnungslos den Überblick ‒ zum eigenen größten Vergnügen. In der Malerei triumphierte das Trompe-l’oeil, das Aufs-Glatteis-Führen der optischen Wahrnehmung. So wenn am Deckengemälde nicht zu erkennen ist, ob das Bein des Puttos noch gemalt ist oder schon dreidimensional aus der Oberfläche hervorwächst oder die Stiefelspitze eines abgebildeten Herzogs auf irritierende Weise dem Betrachter folgt, wenn er vom äußersten linken spitzen Winkel bis zum rechten das Bild abgeht und er stets das Gefühl hat, die Spitze richte sich auf ihn. Es geht bei solchen Verfahrensweisen offensichtlich nicht darum, etwas aufzudecken, sondern etwas zu verschleiern. Es geht aber auch nicht darum, die Scheinhaftigkeit der Welt zu verleugnen, sondern die Wirklichkeit der Realität in Frage zu stellen. Und damit geraten wir in einen gefährlichen Bereich, der sich fast schon der Propaganda annähert, wenn wir denn wüssten, in wessen Diensten und für welche Zwecke die entsprechende Ideologie arbeitet.

Aber im Grunde wissen wir es: nur noch 100 Jahre, dann hängen in Paris die Adligen an den Laternen und fallen die Köpfe. Und nur wenige Jahre danach, da schreibt Büchner im Hessischen Landboten an gegen eben diese Verschleierungsideologie einer alten überkommenen Schicht und fordert die soziale Revolution.

von Johannes Blum aus dem journal #4 der Spielzeit 20|21