Beim Singen (neu) anfangen
Seit einigen Wochen steht auf dem Probenplan der Staatsoper Hamburg für die Sänger*innen des Internationalen Opernstudios ein neues Format: Ariendramaturgie. Dabei ist klar, in welchen Händen das liegt: bei Johannes Blum, dem Leitenden Dramaturgen der Staatsoper Hamburg.
Wir sind auf einer unserer Probebühnen, Robert Jacob spielt Klavier, Gabriele Rossmanith, die Leiterin des Opernstudios sitzt dabei, und ich hatte Hubert Kowalczyk, dem jungen Bass für die Arie des Raimondo aus Lucia di Lammermoor eine nicht ganz einfache Aufgabe gestellt. Nachdem er zu Ende gesungen hat, macht er eine aussagekräftige Geste: Er kreuzt die Arme vor der Stirn und sagt so etwas wie: „total verquer“. Was ist geschehen? Raimondo ist ein Priester, der im Dienst Enricos dessen Schwester Lucia von ihrer Beziehung zum Todfeind der Familie Edgardo abzubringen versucht. Nach einer erzwungenen Hochzeit tötet Lucia ihren Ehemann. Und als Raimondo der Gesellschaft beschreibt, wie er den Toten und seine Mörderin vorgefunden hat, merkt man ihm seinen Schock, aber auch seine Gewissensbisse an, für die Tat Lucias mitverantwortlich zu sein. An sich ja kein Problem für einen Sänger, doch die Musik erzählt von all dem – gar nichts.
Dabei haben die Beziehungen zwischen Musik und emotionaler Situation im Grunde alle Komponisten, vom Barock über Mozart, Beethoven, Weber, Verdi, Wagner, Strauss, Berg bis in unsere Moderne hinein, interessiert, die Komponisten des Belcanto jedoch nicht. Die Maßgabe war pure Gesangsschönheit, das kunstvolle Ausformulieren von musikalischen Gesten. Wenn wir die Musik der Raimondo-Arie anhören, würden wir eher an einen entspannten heiteren Spaziergang mit Lucia denken, nicht aber an die Schilderung eines Mordes. Zunächst habe ich für Hubert den Text der Arie in ein heutiges Deutsch übersetzt, denn das italienische Original und die deutschen Übersetzungen, die es gibt, sind sprachlich poetisierend, aber nicht realistisch. Ich wollte, dass Hubert sich der Arie im heutigen Sprachduktus nähert, um den Sprung von 1835 ins Jahr 2021 wagen zu können. Genau – es geht erstmal ums Sprechen, denn die Arbeit mit den Sänger*innen des IOS ist es, ganz vorn anzufangen, nämlich beim Text, und erst mit den Erkenntnissen der Textarbeit sich dem Singen zu stellen. Hubert geht also tief in das Imaginieren der Szene hinein, versucht sich bildhaft das Blut, die Leiche, Lucia mit der Waffe in der Hand, ihr Gesicht vorzustellen und die Situation zu beschreiben. Dann kommt die Musik dazu, doch immer noch bleibt es beim Sprechen, die gefundenen Bilder sollen weiterwirken.
Dann das Schwierigste: Mit dem Wechsel zum Singen gibt es plötzlich eine neue Zeit, neue Betonungen, andere Pausen, andere Ausdrucksweise und Sprachsinn. Und dieser harmlose, dem inneren Geschehen des Raimondo in keiner Weise entsprechende Belcanto-Gesang kollidiert massiv mit Huberts inneren Vorgängen. Total verquer eben. Was sich aber einstellt, ist produktive Reibung, Widersprüchlichkeit zwischen den psychischen Schichten, die quer zueinander stehen, womit wir genau bei Raimondos Konflikt zwischen Pflicht und Einsicht angekommen wären. Und plötzlich stellt sich die Kritik am Belcanto vielleicht als vorschnell heraus. Was, wenn man so die dramatischen Vorgänge der Belcanto-Opern aus ihrer Schönheits-Falle befreien könnte?
Gabriele Rossmanith hatte die Idee, dass wir die Repertoirefreie Zeit, die uns die Corona-Pandemie beschert (eine zweifelhafte Freiheit) für die weitere Ausbildung der Sänger*innen sinnvoll mit Trainings, Meisterklassen und Coachings füllen sollten. In einer normalen Spielzeit ist jeder aus dem Opernstudio voll mit Proben und Vorstellungen im Großen Haus oder der opera stabile beschäftigt, sodass sehr wenig Zeit bleibt für genauso wichtige Förderungen während dieser zweijährigen Brücke zwischen Hochschulausbildung und Engagement. Und so entstand die Idee, die musikalisch-sängerische Arbeit an den Arien zu ergänzen durch eine praktische Arbeit an ihrer dramaturgischen Struktur. Und das fängt eben erstmal beim Text an, geht weiter zur Analyse der Figur, ihrer Funktion in der Oper und ihres Gangs durch die dramatische Handlung. Konkret: Raimondo hat in der Lucia zwei Arien, die seine Zerrissenheit zeigen: die erste „Di tua speranza“, in der er den Auftrag Enricos erledigt, die zweite „Dalle stanze“, in der er die fatale Folge von Lucias Zwangsehe beschreibt.
Im Opernstudio gibt es zwei koreanische Sänger, Simon Yangund David Kang, und eine koreanische Sängerin, Sujin Choi. Mit den beiden Männern konnte ich ihre Arien auf deutsch arbeiten, mit Sujin ging es nur auf englisch, sie bleibt, im Unterschied zu den anderen, nur ein Jahr in Deutschland. Der Anfang war aber bei allen dreien koreanisch, denn ich war überzeugt, dass alle in ihrer jeweiligen Muttersprache mit dem Arientext beginnen sollten, um einen möglichst direkten Zugang zu gewinnen. Doch bei Simon und David funktionierte das nicht, der kulturelle Kontext erschwert offenbar Gefühlsäußerungen, und in deutscher Sprache funktionierte es perfekt (welch interessanter Umweg).
Mit Sujin arbeiteten wir an der Pamina-Arie „Ach, ich fühl’s“. Wir hatten uns ein wenig beholfen, indem ich den kontaktverweigernden Tamino „spielte“, an den Pamina im vorangehenden Dialog vergeblich ihr Wort richtet. Sujin sollte selbst direkt spüren, wie es ist, wenn das Gegenüber dem anderen einfach immer den Rücken zuwendet, und nicht nur theoretisch wissen, dass die beiden sich erst nach Wochen der Trennung wiedersehen. Darüber waren wir uns im Gespräch über die Oper vorher klar geworden, nachdem wir auch über das so reiche Wort „Ach“ gesprochen hatten. Das Erstaunliche: Sujin sprach den Text auf koreanisch mit beeindruckend tiefer Emotionalität. (Die Erklärung von Simon später war, dass die Leute aus dem Süden Koreas eben anders sind als „wir aus Seoul“ – erkennt jemand Parallelen in Deutschland?). Das Schöne war, dass sie dieses Grundgefühl der Pamina, keinen einzigen Menschen auf der Welt mehr zu haben und sich in der größten Verlassenheit als einzigen Ausweg nur den Selbstmord vorstellen zu können, in das Singen der Arie mitgenommen hat. Gabriele Rossmaniths Kommentar dazu war, dass die Arie jetzt viel dunkler geklungen habe, das Helle aus ihrer timme verschwunden sei. Woher auch sollte sie, Pamina, es haben?
Reibungen und produktive Widersprüche sind das, was die Sänger*innen nutzen können, um ihren Arien eine Art biografischer Kontur zu geben. Simon Yang schlug die Arie des Roméo aus Gounods Roméo et Juliette vor, natürlich die Balkonszene. „Lève-toi, soleil“, ist sein Bitten an Julia, die er oben im hell erleuchteten Zimmer vermutet: sie möge heraustreten, sich zeigen Johannes Blum, Marie-Dominique Ryckmanns, Seungwoo Simon Yang, David Minseok Kang (im Zoom aus Seoul) wie die Sonne, wenn sie aufgeht. Der entscheidende Hinweis, die Sehnsucht nach dieser Sonne, nach diesem Licht, nach dieser Liebe in sich aufzuspüren, war die Idee, sich Roméo als blind vorzustellen, der das Licht sucht. Und sofort war sein Wunsch unmittelbar spürbar. Eigene Erfahrungen, aus konkreter Lebensgeschichte oder durch Film- oder Leseerlebnisse, können sehr viel auslösen, wenn man sie mit den Arien parallelisiert. Kady Evanyshyn sang die Arie der Charlotte aus Massenets Werther, die Briefszene, in der ihr, nachdem sie schon mit Albert verheiratet ist, Werthers Briefe noch einmal in die Hände fallen.
Zuvor hatten wir über Sean Penns Film „Into the wild“ gesprochen, der uns beide tief beeindruckt hat. Ein junger Aussteiger verlässt nach dem College seine Eltern und Freunde, geht nach Alaska und bringt dort in einem verlassenen Reisebus, fern aller Zivilisation mehrere Monate zu. Als er aber bei Tolstoi liest, dass man ohne andere Menschen nicht glücklich werden kann, will er zurück, doch der Fluss, den er überqueren muss, führt zu viel Schmelzwasser. Er stirbt in dem Bus. Kady sollte sich vorstellen, dass Werther diese Briefe, die Charlotte nach seinem Tod übergeben wurden, im Bus geschrieben hat.
Die Ausbildung von Sänger*innen beschränkt sich heutzutage leider immer noch viel zu sehr auf die technische Bewältigung der Vorgaben der Komponisten und widmet sich viel zu wenig dem Finden eines persönlichen Zugangs zur Musik der Figuren, die sie darstellen sollen. Hart formuliert: Die jungen Sänger*innen sind, was das Szenische angeht, fast nicht ausgebildet. Sie lernen diesen Teil des Berufes erst während der Proben in ihren Erstengagements. Fast nie spielen bei den Vorsingen auch darstellerische Fähigkeiten eine Rolle. Dabei ist das Herstellen einer Rolle mittels einer so artifiziellen Kunst wie dem klassischen Operngesang ungeheuer schwer.
Wenn die Sänger*innen nicht gefordert werden, dieser im hohen Maß künstlichen Kunst eine ganz reale, mit ihren persönlichen Erfahrungen unterfütterte Basis zu verleihen, bleibt es oft bei zwar bewundernswerter Gesangskunst, aber die Situationen, Geschichten zwischen und in den Figuren werden nicht in ausreichendem bzw. möglichen Maß erzählt. Um es noch deutlicher auszudrücken: Das Theater als Spiegel, höherem Ausdruck und essenzieller Menschendarstellung bleibt auf der Strecke. Es ist viel mehr erreichbar. Vielleicht ist das die Zukunft der Oper: die Figuren zu radikalisieren, beim Singen (neu) anzufangen.