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„Das ist zum Sterben!“ – La Bohème legt den Finger in die Wunde

Ein Beitrag von Michael Sangkuhl aus dem Journal Nr. 3 der Spielzeit 2022|23 über das Leben, Leiden und Lieben von gewöhnlichen Menschen.

Die einen gehen ins Restaurant oder in die Oper, die anderen liegen nahe eines Abluftschachts in eine Wolldecke gehüllt und auf einem Pappkarton schlafend. Ein Bild, dessen Kontrast größer nicht sein könnte und sich doch allabendlich wiederholt. Was hat das mit La Bohème zu tun? In Puccinis Meisterwerk sind es eben jene, die draußen vor der Tür liegen, denen wir auf der Bühne wiederbegegnen. Es gibt wohl kaum eine vergleichbar bekannte Oper im Repertoire, die derart von Einsamkeit, Armut, Kälte und Hunger erzählt. Ein Elend, das der Komponist, wenn wohl auch etwas überzeichnet geschildert, aus seinen frühen Studienjahren in Mailand kannte: „Während jener Jahre am Konservatorium litt ich so sehr unter Armut, Kälte, Hunger und Elend, daß mein Herz verbitterte und meine Seele verkam“. Zwar spielt die Oper in einem spezifischen Milieu unter Künstlern, die mit ihrer bewusst gewählten Lebensweise gegen die bürgerliche Moral revoltieren, doch das Bild der Kunst als Lebensmittelpunkt wird in La Bohème gänzlich zerschmettert – die eigentliche Kunst besteht darin zu (über-)leben. Und doch hat das verklärte – um nicht zu sagen verkitschte – Künstlerbild des 19. Jahrhunderts bis heute überdauert. Der Musikkritiker Joachim Kaiser schrieb schon 1975 anlässlich einer Salzburger Aufführung der Oper: „Die Entbehrungen junger Menschen werden bei Puccini so wunderschön romantisch verklärt, daß bestimmt jeder Millionär im Parkett sogleich mit diesen hungernden Künstlern tauschen würde“. Die Realität sah und sieht anders aus. Henri Murger, Autor der Vorlage für Puccinis Oper, kannte sie nur zu gut – die Entbehrungen, denen er ausgesetzt war, führten zu seinem frühen Tod mit nur 38 Jahren. In seinem Vorwort schreibt er: „Bohème ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus.“ Seine Protagonistin Mimì stirbt in eine Decke gehüllt an einer Krankheit, weil keine Medizin im Haus ist, kein Geld für ein beheiztes Zimmer oder eine Mahlzeit vorhanden ist. Wie Rodolfo sagt: „Die Armut ließ sie verblühen, um sie wieder zu beleben, reicht die Liebe nicht aus!“

Foto: Hans Joerg Michel

Heute ist die Krankheit ein Virus mit dem Namen Corona, der in den letzten zwei Jahren vielen Menschen ihre Lebensexistenz zerstört und sie in die Einsamkeit getrieben hat. Die Auswirkungen sind noch immer zu spüren und werden es wohl auch noch lange sein – die Folgen sind noch gar nicht absehbar. Zudem sind angesichts einer steigenden Inflation viele auch aus der Mittelschicht von Armut bedroht und wissen nicht mehr, wie sie ihre täglichen Lebenshaltungskosten begleichen sollen. Laut Statistischem Bundesamt waren 2021 rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Rund 178.000 Personen waren zum Stichtag Ende Januar 2022 wegen Wohnungslosigkeit in Notunterkünften untergebracht. Hamburg stellt in der Statistik einen bundesweit traurigen Rekord unter den Großstädten auf. All jene, die auf der Straße, bei Freunden oder Familien leben, sind in diesen Zahlen noch nicht einmal erfasst.
Der Kontrast des eingangs beschriebenen Bildes ist in Puccinis La Bohème eingefangen: Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit, Lachen und Weinen, Feiern und Hungern. Die Musik ist dabei alles andere als süßlicher Kitsch. Der Musikschriftsteller Richard Specht bezeichnete sie als „Musik des Alltäglichen“. Auch das, was manchen scheinbar trivial und nebensächlich erscheinen mag, fasst Puccini in Musik und gibt jenen eine Stimme, die sonst gerne im Lärm des Alltags überhört werden, erzählt von ihren großen und kleinen Sorgen und Träumen – etwa einem Sonnenstrahl im April. Sie erzählt von Liebe, Verlorenheit, Abschieden und von der Einsamkeit. Denke man einmal daran, dass Musetta nur aus letzterem die Aufmerksamkeit aller sucht, so erscheint ihr verführerisch-langsamer E-Dur Walzer Quando me’n vo’ tiefmelancholisch und die zum Ensemble hinzutretenden Stimmen wirken wie „hilflose Schreie“ eines geschäftigen Weihnachtstreibens, das Wolfgang Willaschek als „Schauspiel der inneren Leere“ beschrieben hat.
Im Januar kehrt La Bohème in der Inszenierung von Guy Joosten für sechs Vorstellungen auf den Spielplan zurück und zeigt uns, dass es auch heute noch der Utopie einer Liebe bedarf – der Nächstenliebe. So steckt in den Worten des Philosophen Colline, die er an Schaunard richtet, eine Botschaft, über die es gerade zur Weihnachtszeit nachzudenken gilt: „Verrichten wir beide, jeder auf seine eigene Weise, einen Akt der Barmherzigkeit“.