Draußen im Zeitlosen Dschungel — Tannhäuser


Die Proben für die Neuproduktion Tannhäuser laufen auf Hochtouren. Die romantische Oper über einen Künstler im Widerspruch wird von Kornél Mundruczó neuinszeniert. In unserem Blog-Post teilt der Film- und Theaterregisseur seine Gedanken zur Gestaltung der Oper – Premiere am 24. April 2022.

Für mich war die wichtigste Frage, was der Venusberg bedeutet und wer Tannhäuser dort als Person ist. Ich spürte, dass es sehr schwierig werden würde, irgendetwas zu machen, bevor ich nicht eine Antwort auf diese Frage gefunden habe. Unsere Grundidee mit Dramaturgin Kata Wéber und Bühnenbildnerin Monika Pormale war, dass es eine Art verlorene Freiheit ist, nach der sich Tannhäuser sehnt. Der Venusberg ist ein Wunschtraum und ein Scheitern der 68er-Generation – ein Ort wirklichen Außenseitertums, mit seinen positiven und negativen Seiten.
In unserer Interpretation sind Venus und Tannhäuser ein älteres Paar: Sie haben Kinder, ihre Kinder haben Kinder und die ganze Gemeinschaft lebt draußen im zeitlosen, schwülen Dschungel. Die Göttlichkeit der Venus bedeutet für mich nicht, dass sie selbst eine Göttin ist, sondern dass sie das Göttliche, das im christlichen Kulturkreis existiert, verlässt, aussteigt, und mit Tannhäuser eine Familie und eine Gemeinschaft gründet. Die sexuelle Dimension liegt für mich eher in der Besessenheit und Sucht und nicht in den spezifischen sexuellen Entladungen. Ich stelle mir etwas Verborgeneres vor, natürlich auch durch das, was ich aus der obsessiven Natur der Musik herausgespürt habe.

Wenn wir Tannhäuser zunächst außerhalb unserer Zivilisation treffen – an einem Ort, den wir nicht begreifen können, dessen Realität wir nicht kennen –, ist er bereits ein gefallener Held. Wir nehmen nur wahr, dass ihm das Glück entgeht. Wir sehen eine festgefahrene kleine Gemeinschaft, von der wir nicht wissen, ob es sich um eine religiöse Gruppierung oder um einen Familienurlaub handelt. Bei der Konzeption des Venusberges inspirierten uns die Fotografien von Sally Mann, die sowohl die Existenz des Körpers als auch die Durchlässigkeit der Grenzen der Familie thematisieren. Gleichzeitig fand ich die Idee des Zusammenstoßes von Süden und Norden interessant. Deshalb haben wir uns für den Dschungel entschieden, der sowohl die schönste als auch die aggressivste Form der Natur ist. Es ist eine unartikulierte, unkontrollierte Kraft, die den Regeln des Universums folgt und keine Vorstellung von der Abstraktion hat, die den Menschen prägt. Ich denke, dass diese Setzung hier in Norddeutschland eine Kraft ausüben kann, die die titanische Idee von Ausstieg, deren Sünde und Freiheit bei Tannhäuser auslost – was für mich eine viel stärkere Triebkraft dieser Figur ist als das sexuelle Verlangen nach der perfekten Frau, Venus.

Tenor Klaus Florian Vogt ist die Titelpartie Tannhäuser in der Neuproduktion. Foto: Dominik Odenkirchen

Wenn wir auf die andere Welt stoßen, die die Natur, die mörderische, zügellose Kraft, die Freiheit und die Gesetzlosigkeit des Universums in einen abstrakten, von Menschenhand geschaffenen Rahmen stellt, erzeugt der Zusammenprall dieser beiden Welten eine dramatische Spannung. Tannhäuser ist Teil des Kampfes dieser beiden Welten. Er selbst ist eine spaltende Persönlichkeit. Er ist ein neurotischer, ausgebrannter, depressiver Mann, der auf dem Weg ist, sein eigenes Schicksal zu erfüllen, sich zu läutern – doch er hinterlässt Leichen. Für mich (natürlich auch aufgrund meines Alters) ist Tannhäuser eher ein Mann, der die ersten großen Wellen hinter sich hat und mit einer Midlife-Crisis kämpft. Seine Fragen: Worum es im Leben wirklich geht und ob es noch sinnvoll ist, sich zu verändern. Er hat genug vom Dschungel und verlässt deshalb die idyllische Welt, die er geschaffen hat. Die Zerstörung, die er auslöst, ist der Beginn einer Art Selbstheilungsprozess. Er muss sich seinen Dämonen und Traumata stellen.
Im zweiten Akt sehen wir einen unerträglichen Mann, der ständig über andere schimpft, provoziert und geradezu danach schreit, wieder weggeschickt zu werden. Er ist eine streitbare Figur, die sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt, indem er zum Beispiel das Lied eines anderen unterbricht und sein eigenes singt. Wir sehen viele Situationen, die zeigen, was ein Künstler tun kann und was nicht, wie weit er gehen kann und wo die Grenze überschritten ist. Gleichzeitig hat Tannhäuser das Gefühl, außerwählt zu sein, Dinge tun zu können, die andere Menschen nicht tun können, und so wird Freiheit relativ. Wie weit reicht meine Freiheit und wann schränkt sie die Freiheit anderer ein? In dieser Figur ist sowohl die Rebellion gegen die Hierarchie als auch die Schaffung einer neuen Hierarchie präsent.

Unsere kreativen Prozesse sind auch heutzutage noch von einem Gefühl des Auserwähltseins geprägt, und Hierarchie und Machtdenken sind in der Kunst stark vertreten. Diese Aufführung versucht eine Kritik daran zu formulieren.
Tannhäuser hat auch mit seinem Verhalten Elisabeth gegenüber Schuld auf sich geladen. Er hat ein Trauma bei ihr verursacht, das auf irgendeine Weise wiedergutgemacht werden muss. Er ist ein schwerfälliger, hochmutiger Mann mit echten Sensibilitätsproblemen. Was Tannhäuser Elisabeth zu bieten hat, ist skandalös und so weit außerhalb unserer rationalen Vorstellung von menschlichem Glück, dass es nur zu einem weiteren Trauma fuhren kann.
Das Interessante an dieser Oper ist, dass es nicht nur eine schreckliche Spannung zwischen zwei Welten gibt, sondern dass dieser Konflikt in Tannhäuser selbst präsent ist. Auf der einen Seite ist da sein Wunsch, zurückzukehren und das, was er zerstört zurückgelassen hat, wiedergutzumachen, aber er kann nicht gegen seine eigene Natur handeln und verhalt sich im Gesangswettbewerb so, dass er wieder gehen muss. Tannhäuser besitzt die Anziehungskraft des Negativen: Er hat Recht, zugleich ist er ein Monster. Er ist der Archetyp des Titans, was er leistet, ist erstaunlich, aber nicht produktiv, gleichsam zum Scheitern geboren. Und das kann auf andere Menschen abschreckend wirken – oder auch anziehend, wie es bei Elisabeth der Fall ist.

Einblicke in die Entstehung des Bühnenbildes in den Werkstätten der Staatsoper in Rothenburgsort

Ich sehe Elisabeth als einen außerordentlich körperlichen Menschen, der manchmal Ausbrüche hat und gebändigt werden muss. Sie ist eine traumatisierte Person in großer Not, die mit vielen Dämonen zu kämpfen hat und deren letzter Ausweg der Selbstmord ist. Erst ihr Tod befreit sie von Tannhäuser, der die Erbsünde an ihr begangen hat: eine junge Frau zu zerstören. Gleichzeitig liegt in Elisabeths Selbstmord ein messianisches Sendungsbewusstsein. Für mich ist es wichtig, in Elisabeth nicht nur das Opfer, sondern auch die leidende Frau zu zeigen. Sie ist eine gewichtige Frauenfigur, die die Masse des Schmerzes, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hat und auf ihrer Seele lastet, einfach nicht mehr ertragen kann.

Der Landgraf, ihr Quasi-Vater, ist eine schwierige Rolle, denn er muss sowohl ein Staatsoberhaupt als auch ein verantwortungsbewusster, liebender Elternteil sein in einer Zeit, in der die Interessen des Staates nicht unbedingt mit denen des Vaters übereinstimmen. In dieser Rolle zeigt sich auf eine schone Art, wie ganz andere Verantwortlichkeiten ins Spiel kommen, wenn man eine Machtposition innehat.

Der einzige Mensch, mit dem Tannhäuser eine freundschaftliche Beziehung hat, Wolfram, ist ein echter Humanist, der noch an die Menschen glaubt und nicht bloß einen Gegenpol zu Tannhäuser bildet. Wolframs Liebe zu Elisabeth steht in der Tradition der großen Humanisten. Für mich bilden diese beiden männlichen Figuren, Landgraf und Wolfram, zusammen mit Tannhäuser ein Ganzes, und ich will, dass diese drei Figuren nebeneinander existieren. Erst dann kann man verstehen, dass hier drei verschiedene (männliche) Aspekte das Leben einer Frau bestimmen, die den Freitod wählt.
Obwohl wir ein Scheitern auf allen Ebenen sehen, schließt Wagner in gewisser Weise friedvoll und mit der Möglichkeit eines Neuanfangs. Es ist das Gefühl eines durchlebten Passionsspiels, das auch Tannhäuser zeichnet – bis er den Nullpunkt erreicht und sein Leben neu beginnen kann. Wir erleben die Apotheose eines Niedergangs, in der ein neuer Anfang liegt.

Gleichzeitig sehen wir eine sehr aktuelle Geschichte: Die Welt ist so überreguliert, dass der Wunsch auszubrechen, das gemeinsame Bestreben von uns allen, etwas zu verändern, sehr ausgeprägt ist. Unsere Zeit ist von einer Art messianischen Erwartung gekennzeichnet. Die frühen Wagnerwerke, die diese unglaubliche Sehnsucht zeigen, erleben heute fraglos eine große Resonanz.

Ein Beitrag von Kornél Mundruczó erschienen im journal Nr.5 der Spielzeit 2021/22