Hummel Hummel – Mors Mors: Opernstudio damals und jetzt – Bariton trifft Koloratursopranistin
Im Doppelinterview treffen Christoph Pohl und Marie-Dominique Ryckmanns aufeinander. Der Bariton ist ehemaliges Opernstudio-Mitglied und gestaltet derzeit erstmals die Partie des Lord Enrico Ashton in der Neuproduktion „Lucia di Lammermoor“ an der Staatsoper Hamburg. Die Koloratursopranistin ist aktuelles Opernstudio-Mitglied und wirkt gerade an der Neuinszenierung der Kammeroper „WEISSE ROSE“ mit.
Frau Ryckmanns und Herr Pohl, Sie beide sind gerade Teil von zwei Neuproduktionen der Staatsoper Hamburg. Wie ist es für Sie in diesen Zeiten zu arbeiten, wie erleben Sie die aktuelle Situation?
Marie-Dominique Ryckmanns: Ich bin sehr dankbar, dass die Staatsoper Hamburg sich so sehr bemüht, in diesen schwierigen Zeiten neue Projekte – Corona-konform – zu gestalten und uns Sänger*innen, Videokünstler*innen, Regisseur*innen und vielen mehr damit eine künstlerische Aufgabe und eine berufliche Sicherheit ermöglicht! Unsere Verantwortung ist es jetzt als Künstler*innen aber auch zu zeigen: Wir sind hier! Wir proben weiter! Wir möchten so gerne wieder für unser Publikum spielen und ihm einen Ort der kreativen Begegnungen bereiten!
Christoph Pohl: Da ist ganz viel: Zunächst einmal Dankbarkeit, dass die Hamburgische Staatsoper an dieser Produktion festgehalten hat und versucht, die Proben für uns alle so sicher wie möglich zu gestalten. Dann natürlich Freude, endlich wieder auf der Bühne stehen zu dürfen. Der lang vermisste Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, das gemeinsame Arbeiten an einem Opernereignis – das gibt mir ganz viel Energie. Die brauche ich allerdings auch: Denn es ist anstrengend, wieder zu arbeiten! Nach Monaten als Hausmann und Familienvater muss ich mich erst mal wieder an die Arbeitsbelastung einer Neuproduktion gewöhnen. Das ist ein bisschen so, als müsste man einen alten VW-Käfer aus der Garage holen, entstauben und freifahren. Und natürlich schwingt auch etwas Angst mit: Angst vor einer Ansteckung, Angst wieder wochenlang zu proben, ohne dass es zu Vorstellungen kommt, Angst, dass die monatelange Pause Folgen in der eigenen Darstellung zeigt. Aber das Beruhigende ist: Es geht uns allen so. Und so startet man wieder gemeinsam und kreiert gemeinsam einen neuen Opernabend – diese Verbundenheit hat mir in der Isolation am allermeisten gefehlt.
Herr Pohl, sie waren von 2003 bis 2005 Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Hamburg und feiern seither national wie international Erfolge. Was geben Sie jungen Sänger*innen mit auf den Weg?
Christoph Pohl: Gerade zu Coronazeiten ist es für junge Sängerinnen und Sänger extrem hart. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es sein muss, in den Startlöchern zu warten, wenn die Welt stillsteht. Deshalb muss man gerade jetzt jeden Moment genießen und jede Inspiration aufsaugen. Ich habe an allen meinen Stationen neue Eindrücke, neue Lehren, Stilistiken, Sprachen, Einflüsse und Ideen mitgenommen. Deshalb finde ich das wichtig: offen zu sein, wach zu sein und vor allem bereit zu sein. Denn je mehr das eigene Repertoire an solchen Eindrücken wächst, desto besser kann man sie in seinen Gesang und seine Arbeit einfließen lassen. Gleichzeitig sollte man dabei seine Grenzen kennen: was man leisten kann, aber auch wie weit man gehen will. Mir wurde einmal geraten: „Geh mit den Menschen, die dich lieben.“ Das hat mir sehr geholfen. Wenn dich etwas oder jemand nur quält und runterzieht, trenne dich davon. Nur so kann man authentisch bleiben und handelt nicht gegen seine eigene Energie. – Aber so altklug rede ich natürlich nur daher, weil ich viele von diesen Sachen selbst verpasst oder doch nicht danach gehandelt habe … und es manchmal immer noch nicht tue …
Frau Ryckmanns, Sie stehen am Anfang einer vielversprechenden Karriere. Sie sind bereits mehrfach ausgezeichnet und Ihre erste Produktion an der Staatsoper Hamburg war „Pierrot lunaire“ an der Seite von Anja Silja und Nicole Chevalier unter der Musikalischen Leitung von Kent Nagano. Was wünschen Sie sich und Ihren jungen Kolleg*innen für Ihre weitere Laufbahn? Welche „Opernwelt(en)“ möchten Sie in Zukunft gestalten?
Marie-Dominique Ryckmanns: Die Arbeit sowohl an „Pierrot lunaire“ als auch an der Partie Sophie Scholl in „Weisse Rose“, mit solch herausragenden und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, hat mir einen intensiven Einblick in die moderne Opernwelt gegeben. Hier gibt es bestimmt noch allerlei klassisch-modernes, aber auch viele interessante neue, zeitgenössische Kompositionen für mich zu entdecken! Gewiss ist auch meine Wunschliste an Rollen der Klassik oder Romantik lang, aber der größte Wunsch wäre es, Wege zu finden, wieder im größeren Rahmen zusammen musizieren zu können: Musik lebt durch das Miteinander!
Herr Pohl, hinsichtlich Amélie Niermeyers Inszenierung von „Lucia di Lammermoor“ (und auch mit Blick auf Ihre Erfahrungen) – wie haben sich die Rollenbilder auf und hinter den Opernbühnen gewandelt?
Christoph Pohl: „Lucia di Lammermoor“ ist das perfekte Beispiel dafür, wie aktuell ein Werk sein kann, dessen Handlung im ausgehenden 16. Jahrhundert angesiedelt ist. Denn Thema des Stückes ist ja unter anderem die fehlende geschlechtliche Gleichberechtigung. Wieso darf ich als Enrico meiner Schwester Lucia vorschreiben, wen sie zu heiraten hat? Das ist eine Diskussion, die es auch heute noch gilt, weiterzuführen. Und genau das finde ich spannend an der modernen Rollenarbeit: Ich darf mich wirklich in die Rolle hineinversetzen, darf ihr Handeln und Fühlen für mich so logisch und aktuell erklären, dass ich es auch überzeugend darstellen kann. Im Falle des Enrico sind wir zum Beispiel auf der Suche nach einem Grund für seine harte Einstellung Lucia gegenüber. Eine Erklärung könnte der Druck der Familienehre sein, die hochzuhalten ihm als Familienoberhaupt aufgetragen wurde. Daraus entsteht ein Zwiespalt zwischen der Strenge als Patriach (und – zugegeben – der Rachsucht gegenüber Edgardo) und der Liebe zu seiner Schwester, die zumindest im Sextett kurz hervorblitzt. Erst wenn sich ein derartiger Konflikt findet, wird die Figur spannend und löst sich von einem eindimensionalen Gut oder Böse. Deshalb ist es so wichtig, tief zu graben und solche Schätze zu finden.
Frau Ryckmanns, die Kammeroper „WEISSE ROSE“ von Udo Zimmermann und Librettist Wolfgang Willaschek wurde 1986 in der opera stabile der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt. Nun inszeniert David Bösch den Stoff als Graphic Opera – was erwartet die Zuschauer*innen und ist es nur für sogenanntes „junges Publikum“?
Marie-Dominique Ryckmanns: Es ist eine große Ehre, 35 Jahre nach der Uraufführung, diese neuartige Inszenierung der „WEISSEN ROSE“ – vor allem im Hinblick auf den diesjährigen 100. Geburtstag von Sophie Scholl – mitgestalten zu dürfen! In unserer „Graphic Opera“ erwartet die Zuschauer*innen eine Mischung aus Realität und Animation: Mein Kollege Michael Fischer als Hans Scholl und ich werden zunächst vor einem „Green Screen“ singen und schauspielern. Später können dann Zeichnungen sowie Animationen durch computer-technische Mittel um uns herum entstehen. Den Ausdrucksmöglichkeiten und der Ideenwelt sind also erst einmal keine Grenzen hinsichtlich Raum, Requisite und so weiter gesetzt! Wer „Manon“, die Neuproduktion aus der Staatsoper Hamburg von Januar 2021, gesehen hat, konnte bereits einige Eindrücke von der einfühlsamen und ausdrucksstarken Animationskunst von David Bösch und seinem Team gewinnen.
Große Themen der Weißen Rose waren Menschenwürde, Humanität, Solidarität, Glauben und friedliches Bemühen um Freiheit. Ich denke, diese Themen sind noch heute für uns alle relevant und ich hoffe, wir können durch unsere Musik und unsere neue Perspektive das Publikum erreichen – egal ob jung oder alt, ob Opern-erfahren oder Opern-Entdecker!
Vielen Dank an Sie beide und toi, toi, toi für Ihre Zeit an der Staatsoper Hamburg und die bevorstehenden Endproben!
Marie-Dominique Ryckmanns
Marie-Dominique Ryckmanns ist seit der Spielzeit 2020/21 Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Hamburg sowie Stipendiatin der Körber-Stiftung. Im September 2020 wirkte Sie in der Neuproduktion „Pierrot lunaire“ neben Anja Silja und Nicole Chevalier mit. Die lyrische Koloratursopranistin begann ihre klassische Gesangsausbildung in ihrer Heimatstadt München bei KS Felicia Weathers und studierte dann an der Universität Mozarteum in Salzburg. Noch während ihres Studiums verkörperte sie dort u. a. Tytania („A Midsummer Night’s Dream“) und Olympia („Les Contes d’Hoffmann“). Mit der kanadischen Sopranistin Prof. Edith Wiens arbeitet sie derzeit an der Vervollkommnung ihrer Stimme und ihres Repertoires. Marie-Dominique Ryckmanns ist mehrfache Preisträgerin nationaler und internationaler Wettbewerbe. So erhielt sie u. a. den Grand Prix sowie den Publikumspreis beim 5. internationalen Gesangswettbewerb „Opéra Jeunes Espoirs – Raymond Duffaut“ der Opéra Grand Avignon.
Christoph Pohl
Christoph Pohl war von 2003 bis 2005 Mitglied des Internationalen Opernstudios der Staatsoper Hamburg und gastierte danach an der Dammtorstraße u. a. als Harlekin („Ariadne auf Naxos“, 2013), als Figaro („Il Barbiere di Siviglia“, 2014) als Conte Almaviva („Le Nozze di Figaro“, 2019) und jetzt als Lord Enrico Ashton („Lucia di Lammermoor“, 2021). Der Bariton gehörte von 2005 bis 2018 dem Ensemble der Semperoper an. Zu seinem Repertoire zählt er u. a. auch Giorgio Germont („La Traviata“), Silvio („Pagliacci“), Guillaume Tell, Onegin („Eugen Onegin“), Danilo Danilowitsch („Die lustige Witwe“), Amfortas („Parsifal“), Der Spielmann („Königskinder“) und Graf Francesco Cenci („Beatrice Cenci“). Zu erleben ist er u. a. bei Gastengagements in Berlin, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt und München sowie international in Wien, London, Venedig, Antwerpen oder Bregenz.