„Ich gehe sehr Film-untypisch vor“ – Luis August Krawen im Interview
Schönbergs atonales Werk Pierrot lunaire besteht aus 21 Gedichten von Albert Giraud. In der Hamburger Version verantwortet Luis August Krawen die Regie und entwickelte einen eindrucksvollen Animationsfilm. Wir haben ihn gefragt, wie er dabei vorgeht.
Wie gehst du bei der Produktionsplanung vor? Entwickelst du ein klassisches Storyboard? Wenn ja, wie?
Tatsächlich gehe ich hier sehr Film-untypisch vor. Eine lange und minutiöse Planung ist beim Film in der Regel erforderlich, weil die Bedingungen, die den Moment der Aufnahme möglich machen, meist an einen enormen personellen und logistischen Aufwand gekoppelt sind. Zu drehen bedeutet quasi, ein fragiles, oft geldverschlingendes Vakuum in eine Welt aus störenden Einflüssen zu reißen und es unter Kraftaufwand kurz offen zu halten. Deswegen muss in diesem Moment alles stimmen, alles klar sein.
Animation erlaubt mir, ganz anders zu arbeiten. Die Materialgenese ist nicht an einen zerbrechlichen Zustand geknüpft, sondern jederzeit möglich, denn im virtuellen Raum herrschen andere Gesetze. Dadurch lösen sich die klassischen Phasen der Filmproduktion auf. Konzeption, „Drehen“ und Schnitt verschmelzen zu einem dynamischen Prozess, in dem ich mich frei vor-und rückwärts bewegen kann. Ich habe eine Idee, setze sie um, werfe das Ergebnis ins Schnittprogramm und schaue, wie es im Kontext des Films reagiert.
Hast du im Vorfeld bereits ein klares Bild von dem, was du erzeugen willst, oder gibt dir die Software den visuellen Rahmen vor?
Die Software legt einen ästhetisch nicht unbedingt fest, da bin ich sehr frei. Meist habe ich vage Ideen, manchmal auch ein klares Bild. In der Regel ist so eine Idee aber nur der Ausgangspunkt für einen längeren Prozess, in dem ich unglaublich viel drehe und wende, denn sie funktionieren selten genauso, wie man sich das vorgestellt hat. Diese Prozesse sind aber das Spannende, weil sie einen häufig zu unerwarteten Resultaten führen. Gerade im Machen entstehen die interessantesten Dinge.
Du erarbeitest die Animationen mithilfe der Software „Blender“. Wieso nutzt du gerade dieses Tool und welches ist noch wichtig für dich?
Blender ist open-source, also für jeden mit einem Computer und Internetzugang verfügbar und einfach eine tolle Software, die sich in den letzten Jahren unglaublich entwickelt hat.
Um die Software existiert eine große Community, in der das handwerkliche Know-How quasi dezentral organisiert ist. Damit ist der Zugang zu diesem Medium wesentlich niedrigschwelliger als noch vor 10 oder 15 Jahren und Leute können sich darin ausprobieren, die einen ganz anderen Background haben als solche, die sich vielleicht für eine Schule entscheiden, die sie für die Industrie ausbildet.
Ab einem gewissen Punkt ist es dennoch sinnvoll, gewisse Bereiche der 3D-Animation in andere Programme auszulagern. Ich nutze z.B. Fuse, um die Figuren zu bauen, und Marvelous Designer, um ihre Kostüme zu entwerfen. Photoshop brauche ich auch hin und wieder.
Das Rendern ist ein zeitintensiver Prozess. Wenn du etwas umschneiden musst, um es beispielsweise der Musik anzupassen, machst du das dann in einem klassischen Schnittprogramm?
Ja, unbedingt! Das 3D-Programm nutze ich nur, um Filmmaterial zu generieren, der Schnitt findet in Premiere statt. Allerdings gar nicht wegen der Renderzeiten, sondern weil sich in klassischen Schnittprogrammen einfach wesentlich besser schneiden lässt.
Der Schnitt ist von zentraler Bedeutung für die Arbeit und ich nehme mir viel Zeit dafür. Früher habe ich auch an Filmen von anderen Filmemacher*innen geschnitten.
Wie viel Rechnerpower ist nötig, um anständig arbeiten zu können?
Viel! Tatsächlich sind High-End-Gaming-PCs gut geeignet, um aufwendige 3D-Animation zu produzieren. Da die Renderzeit pro Einzelbild im Durchschnitt bei 2 Minuten lag, teilweise aber sogar bei 10, durfte ab Beginn meiner Arbeit an dem Film keine Minute verstreichen, in der nicht gerendert wurde. Damit ich simultan arbeiten und rendern konnte, hatte ich 3, am Ende 4 Tower-PCs im Einsatz.
Animationsfilme herzustellen, ist sehr aufwendig. Wie schaffst du es, so ein Projekt alleine zu stemmen?
Da kommt einiges zusammen, damit das möglich wird. Erstmal hat die Oper ideale Bedingungen zur Filmproduktion geschaffen, indem sie mir volle künstlerische Freiheit und ein entsprechendes Budget zur Verfügung gestellt hat, das mir erlaubte, mich für über 3 Monate nur auf diesen Film zu konzentrieren. Das ist ja in der klassischen Filmproduktion mit ihren Förderstrukturen nicht unbedingt die Normalität, da geht viel Kraft für die Akquise von Mitteln verloren.
Dann wird die benötigte Hardware immer billiger und leistungsstärker, die Software entwickelt sich weiter, die Online-Community und das in ihr gespeicherte Wissen wächst. Das sind Ressourcen, die es in der Form noch nicht lang gibt und auf die man als Einzelperson früher nicht zugreifen konnte.
Natürlich muss man die Muße haben, sich in die handwerklichen Details der Programme einzuarbeiten. Man kann nicht alleine animieren, ohne durch viel monotone Fleißarbeit zu gehen. Ich konnte mich aber schon immer für Technik begeistern und gerade die Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen hat das gefördert. Dort zwingen einen die Produktionsbedingungen, die traditionelle Trennung von Kunst und Technik infrage zu stellen. Man versucht, Technisches weniger als Beiwerk, sondern mitunter als Ausgangspunkt für künstlerische Arbeiten zu begreifen.
Und ganz allein ist man ja nie. Ich stand im Austausch mit Georges Delnon und Johannes Blum, die Tänzerin Ting-An Ying hat zur Musik Choreografie entwickelt und ich habe öfter mal Leonie Jenning, eine befreundete Theatermacherin, nach ihrer Meinung gefragt.
Welche Rolle spielten Online-Ressourcen bei der Produktion?
Eine wichtige. Im Internet gibt es auf diversen Plattformen ein riesiges Angebot an 3D-Modellen. Das brauche ich, um meinen Arbeitsprozess zu beschleunigen und mich aufs Wesentliche konzentrieren zu können.
Sagen wir, ich baue eine Szene, für die ich naturalistische Bäume brauche. Dann könnte ich mich hinsetzen und eine Woche lang nur Bäume modellieren. Eine Woche ist aber extrem kostbar, wenn man nur 3 Monate Zeit hat und viel wichtiger ist, den Film voranzubringen. In einem Studio gäbe es dann vielleicht einen Angestellten, der sich nur mit Bäumen beschäftigen kann, aber das habe ich ja nicht. Also kaufe ich für ein paar Dollar naturalistische 3D-Bäume im Internet. Ich bin sozusagen der virtuelle Bühnenbildner und die Objektbibliotheken sind meine Werkstatt.
Oft modifiziere ich dann aber geladene Objekte noch oder verwende sie als Platzhalter.
Du hast in „Pierrot lunaire“ Motion Capture eingesetzt. Wie bekommt man Bewegungen aus der analogen Welt in den digitalen Film? Was sind die Vorteile?
Es gibt Sensoren, die ihre Position im Raum dreidimensional registrieren können. Beim Motion-Capturing trägt man einen Anzug, an dem an den wichtigsten Körperteilen solche Sensoren angebracht sind. Mit spezieller Software lassen sich die Rauminformationen der Sensoren auf ein virtuelles Skelett übertragen, das sich dann genauso wie die Trägerin oder der Träger des Anzugs bewegt. Jede 3D-Figur, der wiederum dieses virtuelle Skelett zugrunde liegt, kann die Bewegungen übernehmen.
Das hat den wesentlichen Vorteil, dass die Bewegungen naturalistisch wirken. Handanimation ist oft sichtbar und als solche erkennbar, was ein Effekt ist, den man nicht immer will. Außerdem lassen sich längere und komplexe Bewegungsabläufe mit Motion-Capturing erheblich schneller umsetzen.
Blick in die Zukunft oder auch schon Gegenwart: Hast du eine Meinung zu Augmented Reality („erweiterte Realität“), Virtual Reality („virtuelle Realität“) und 360° Videos in der Animationskunst?
Ich finde die Technologien spannend, stehe ihnen aber durchaus ambivalent gegenüber. Erstmal ist es für mich naheliegend, mich mit ihnen zu beschäftigen, weil ich sie nutzen kann. Die Tools, die ich zur Filmanimation benutze, funktionieren auch weitestgehend in AR und VR Kontexten.
Vor allem VR steigert den Level der Immersion und kann in performativen Zusammenhängen interessant sein, weil sie in Echtzeit funktioniert. Das bietet Platz für Interaktion und bedingt zu einem gewissen Grad Erfahrungen und Momente, die sich nicht replizieren lassen. Man darf aber nicht vergessen, dass die dargebotenen Inhalte immer medial vermittelt bleiben.
Das Hauptproblem ist, dass die Hardware nach wie vor sehr teuer und nicht besonders bequem ist, daher auch nicht gerade populär. Niemand hat so eine Brille zu Hause und sie für eine Produktion anzuschaffen stellt für viele künstlerische Projekte eine unüberwindbare finanzielle Hürde dar.
AR ist da schon viel verbreiteter, aber auf Grund der Limitationen der Plattformen, auf denen sie möglich ist, auch meist nicht mehr als eine Spielerei.
Es wird sich zeigen. Ich bin sehr gespannt, wie sich das Feld weiterentwickelt. Alleine einen Film wie „Pierrot lunaire“ zu machen, wäre vor 10 Jahren schließlich auch nicht möglich oder viel schwieriger gewesen. 360-Grad-Video finde ich jetzt persönlich nicht so spannend.
Sie möchten die Animationen von Luis August Krawen in „Pierrot lunaire / La voix humaine“ live erleben? Termine und weitere Informationen finden Sie hier.