„miniBAR“ – eine Oper | Teil 2
Quer über Deutschland und Europa verteilt, erarbeiteten 15 junge Musikschaffende der „Akademie Musiktheater heute“ eine Oper. In Teil 1 der Entstehungsgeschichte berichtete Dramaturgin Änne-Marthe Kühn über die ersten 12 Monate Konzeptentwicklung und inhaltlichen Anfänge. Wie ging es weiter?
6) Berlin – Januar 2015 – Ein Libretto entsteht
So kippt der Schreibprozess vom Kollektiv zum Einzelnen. In einem Kopf gehen jetzt die Elemente durcheinander, die zuvor in allen Treffen besprochen wurden. Die ursprüngliche Anlage der Szenen und ihre Personnage werden von Änne-Marthe Kühn, freie Dramaturgin und Produktionsleiterin u. a. bei Rimini-Protokoll, übernommen und verändern sich.
Ihre Alltäglichkeit gipfelt in Tinder-Dates, Jobsuche und billiger Anbiederung. Während die eine am Telefon mit dem Kindsvater ringt, plant der andere eine Revolution, die der Verdummung der Gesellschaft Einhalt gebieten soll. Die Bar wird zu einem „rabbit hole“ in eine abgeschlossene Welt mit eigener Logik und einem Tiger, der die Magie der Bar als ein Potential zum Glücklichsein symbolisiert. Ein Potential, das nicht eingelöst wird, da keine dieser stereotypen Gestalten in der Lage ist, sich aus ihrer Kreisbewegung um die eigene Achse herauszubewegen oder in die Umlaufbahn einer anderen zu geraten. Sie streifen sich, überschneiden sich kurz, und dann drehen sie sich weiter. Alleine. Genau wie zuvor.
Und sehen nicht, wie sie ein kleines Glück greifen könnten. Und sehen nicht, wie die Welt da draußen explodiert.
7) Berlin – Leipzig – Februar bis Oktober 2015 – Das Text-Ton-Verhältnis
Diese Entwicklung des Librettos ist nicht unproblematisch. Da nur ein Kopf diese Fantasie ausgespuckt hat, können viele andere Köpfe damit weniger verbinden. Da prallen unterschiedliche Auffassungen in den verschiedensten Bereichen aufeinander: Was ist eine abgeschlossene Episode, was ist der Tiger, was ist Drama, was ist Humor. Doch schließlich beginnen die Komponisten, ihre eigenen Vorstellungen auf Grundlage des Librettos auszuformen. Nach der Zweiteilung der Minibar widmet sich Sven Daigger dem ersten Teil und Manuel Durão dem zweiten. Sven Daigger, u. a. Baldreit-Stipendiat 2015, dessen Werke im In- und Ausland u. a. vom ensemble recherche und an Häusern wie dem Konzerthaus Berlin aufgeführt werden, hat mit Minibar eine sitcom opera in 14 episodes komponiert. Er greift, wie schon zu Anfang des Projekts angedacht, zurück auf die Idee des Playlist-Prinzips und entwickelt daraus 14 Episoden, die an den Aufbau einer Sitcom erinnern. In jeder der kurzen Episoden werden die kleinen Sorgen der Figuren verhandelt, die Daiggers Musik überaus ernst nimmt. Diese Episoden werden immer wieder von sogenannten „Prosits“ durchbrochen, die an das Konserven-Lachen in den TV-Sitcoms erinnern. Es entsteht mit musiktheatralen Mitteln zunächst eine unfreiwillige Komik, die zusehends ins Tragische kippt.
Manuel Durão, dessen Werke u. a. an der Oper Leipzig aufgeführt wurden, war Preisträger u. a. beim MDR Kompositionswettbewerbs Wagner 2013 und ist zurzeit Lehrbeauftragter für Tonsatz an der HMT Leipzig. Durão verfolgt einen anderen Ansatz, doch auch er hat sich auf die Anfangsidee der Playlist zurückbesonnen. In dreiPhasen komponierte er die Musik für seine Minibar mit dem Untertitel musikalische Farce. Zuerst entstanden Orchestermusik für fünf Songs sowie Prolog und Epilog. Die instrumentale Musik der zwischengeschalteten Breaks ergibt sich aus dem musikalischen Material der Songs, so als hätte ein DJ sie gemixt, variiert, verfremdet. In der dritten Phase wurden Sing- und Sprechstimmen hinzugefügt. Durão liefert die Figuren der Bar zwei Kategorien von Musik aus: Die Musik im Prolog, Epilog sowie die quasi „lontano“. Einschübe spiegeln operntypisch das Innere der Figuren. Alles andere ist äußere Musik, die für die Figuren genauso hörbar ist wie für das Publikum. Sie behauptet eine eigene Wirklichkeit, zu der sich die Barhandlung abspielen kann, zu der aber auch völlig an dere Szenarien denkbar wären. Mit dieser Basis stellt er humorvoll die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Beliebigkeit auf eine Weise, die nur im musiktheatralen Kontext möglich ist. Uraufführung Minibar
8) Hamburg – Januar/Februar 2016 – Die Bar als Bühne
Die in zwei Teilen komponierte Oper Minibar wird von den zwei Regisseurinnen Natalie Schramm und Hersilie Ewald inszeniert. Die freischaffende Regisseurin Natalie Schramm, die zuletzt Jake Heggies „For a look and a touch“ am Staatstheater Braunschweig auf die Bühne brachte, wo sie seit 2012/13 auch als Regieassistentin engagiert ist, übernimmt den ersten Teil der Minibar mit Sven Daiggers sitcom opera in 14 episodes. Hersilie Ewald, freie Regisseurin, 2015 u. a. mit dem Kleinen Rosenkavalier am Festspielhaus Baden-Baden und bei den Berliner Philharmonikern, wird mit Manuel Durãos musikalischer Farce den zweiten Teil der Minibar in Szene setzen. Die musikalische Leitung übernehmen Gabriel Venzago, der seit dieser Spielzeit Assistant Conductor bei den Münchner Symphonikern ist, und Nikolai Petersen, der in der letzten Spielzeit u. a. die Neuproduktion Drei Einakter von Martinu an der Oper Frank furt als musikalischer Leiter betreute. Die künstlerische Produktionsleitung von Seiten der AMH übernehmen Steven Walter, Cellist und Gründer des PODIUM-Festivals, und Manuel Bust, der seit dieser Spielzeit die Leitung des Konzertmanagements bei Heidelberger Frühling innehat. Der Abend wird in einem schwarz-weißen Bühnenraum stattfinden, den Antonella Mazza, Designerin und Bühnenbildassistentin an der Staatsoper Hannover, und Matthias Winkler, freier Bühnenbildner, u. a. am Festspielhaus Baden-Baden, gemeinsam entworfen haben. Mit seinem PopArt-Muster spielt der Raum mit der Wahrnehmung der Zuschauer und stellt die Perspektive des menschlichen Blicks infrage. Beide Inszenierungen werden dieses Bühnenbild nutzen, doch der Zugriff auf Räumlichkeit, Musik und Figuren wird grundsätzlich verschieden sein. Zur Premiere am 19. Februar hat der Zuschauer die Möglichkeit, einen Blick auf die Wandelbarkeit von Menschlichkeiten im Angesicht der Spaßgesellschaft im Untergang zu werfen.
Änne-Marthe Kühn