„O Freund, ich werde sie nicht mehr wiedersehn.”

Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold

Haben Sie eine Patientenverfügung? Sprechen Sie in Ihrem Familien- und Freundeskreis über den Tod? In öffentlichen Debatten diskutieren wir ja viel über Versorgungsvollmachten und selbstbestimmtes Sterben und in den Krimireihen zur Primetime sowie auf der Opernbühne wird der Tod gern als dramatisches Element effektvoll eingesetzt – aber im Alltag bleibt er in unserer westlichen Gesellschaft ein Tabuthema. Sogar in Zeiten von Covid-19 war er in den Statistiken der Berichterstattung oft nur eine abstrakte Zahl. Dabei hat 2022 eine Umfrage des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes (DHPV) ergeben, dass 60 % der Befragten in Deutschland der Meinung sind, unsere Gesellschaft befasse sich zu wenig mit dem Sterben.


Schicksalsschläge können schnell alles verändern, können uns heute oder morgen plötzlich aus dem Leben reißen und Unerfülltes oder Unausgesprochenes zurücklassen. Wie umgehen mit dem Tod eines geliebten Menschen? Eine Frage, die sich jedem von uns irgendwann stellt. Das Sterben gehört zum Leben – damit fertig zu werden, steht auf einem anderen Zettel. Das macht Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ deutlich.

Foto: Bernd Uhlig


Pauls Frau Marie ist tot. Er lebt allein, zurückgezogen, hat sich eine „Kirche des Gewesenen“ errichtet. Womöglich waren, wie der Psychologe Erwin Ringel vermutet, Konflikte mit Marie im Raum gestanden, bevor sie starb. Jedenfalls möchte Paul den „Traum der Wiederkehr“ – sein altes Leben mit einer anderen Frau – Marietta – wiederholen und drängt sie dafür in die Rolle seiner verstorbenen Marie, der sie ähnlich sieht. In Karoline Grubers Inszenierung aus dem Jahr 2015 begleiten seine ihn liebende Haushälterin Brigitta und sein Freund Frank, Pauls Trauerarbeit. Doch ihre Form der Therapie entwickelt eine Eigendynamik. Paul wird immer tiefer in eine albtraumhafte Vision hineingezogen, wird zum ohnmächtigen Beobachter seiner unterdrückten Sehnsüchte und Seelenqualen. „Das Stück birgt eine Fülle von surrealen Situationen […]. Es ist […] ein echter Psychothriller“, meinte 2015 Karoline Gruber. Kaum zu glauben, dass dies das Werk eines Anfang zwanzigjährigen Komponisten ist. Mit der toten Stadt, für deren Stoff sich schon Puccini interessierte, landete Korngold am 4. Dezember 1920 hier am Hamburger Stadttheater und zeitgleich in Köln einen Welterfolg.

Foto: Bernd Uhlig


Der Fall eines trauernden Witwers, der vor der Gegenwart in eine verklärte Vergangenheit flüchtet, hatte 1920 auch eine erstaunlich zeitspezifische Facette: Wie eine Parabel lässt sich diese Geschichte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zusammenbrüche, kriegsbedingter Traumata, einer Pandemie, der steigenden Inflation und der Verdrängungs- und Lähmungserscheinung einer Gesellschaft inmitten dieser Zeitenwende deuten. Schlagworte, die sich für uns heute erschreckend aktuell anfühlen. Auch in Anbetracht ästhetischer Umbrüche durch den Jazz, die Neue Sachlichkeit oder den Neoklassizismus wirkte Korngolds spätromantischer Klangzauber, seine voll Sinnlichkeit schillernd-farbenreiche Musik, die in Pauls Psyche hinabtaucht, wie ein sehnsuchtsvoll-nostalgischer Blick zurück in eine Zeit, die unwiderruflich vorbei war. Zu dem Hit der Oper, das Lied Glück, das mir verblieb, schrieb Julius Korngold, der Vater des Komponisten und Textautor der Oper: „Ich glaubte, so etwas wie ein Schwanengesang des von den Gefahren des Krieges Bedrohten herauszuhören.“


Obwohl Die tote Stadt bis 1933 eine der populärsten Opern im Hamburger Repertoire war, geriet Korngold als „nostalgisch-­rückwärtsgewandt“ bald in Vergessenheit. Und die Nachwirkungen der als „Entartete Musik“ mit einem Aufführungsverbot einhergehenden Hetzkampagne der Nationalsozialisten gegen jüdische Komponist*innen, die mit voller Härte auch Korngold traf, spüren wir noch heute schmerzlich: Erst 2015 wurde „Die tote Stadt“ in Hamburg von Karoline Gruber wieder inszeniert. In dieser Lesart kehrt sie im Juni zurück auf den Spielplan. Und wie damals übernimmt Startenor Klaus Florian Vogt die Partie des Paul. An seiner Seite verkörpert Simone Schneider die Doppelrolle der Marietta/Marie. Die Musikalische Leitung hat Yoel Gamzou, der vergan­gene Spielzeit mit seiner Interpretation von Carmen für Furore sorgte.


Korngold selbst wollte das Werk übrigens „Triumph des Lebens“ nennen. „Der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teure Tote durch die Rechte des Lebens […] zog mich an“, schrieb er. Vielleicht entlässt seine Oper auch Sie in den Abend mit dem Bedürfnis, sich mal wieder bei einem alten Freund zu melden oder mit Ihrer Begleitung noch etwas Zeit zu verbringen. Es verspricht in jedem Fall ein bewegender Opernabend zu werden.