Saint François d’Assise

Kent Nagano und Georges Delnon bringen als krönendes Finale der Opernsaison Olivier Messiaens Solitär Saint François d’Assise in die Elbphilharmonie.

Wie aus dem Nichts schwebt da plötzlich ein Vogel durch den Raum. Hoch oben, leicht, agil. Er ist klein und zierlich. Er schlägt ein-, zweimal mit den Flügeln, nimmt wieder Fahrt auf, um nicht ganz hinabzugleiten, und lässt sich dann auf einem der Balkone nieder im hellen Licht …“ – das kleine Himmels­geschöpf bestand aus den höchsten Tönen, die Olivier Messiaen in einer seiner unzähligen Improvisationen als Organist der Pariser Kirche Sainte-Trinité den Orgel­pfeifen entlockte, eine musikalische Fantasie, wie sich Kent Nagano in seinem Buch Erwarten Sie Wunder! erinnert: „Plötzlich war nur noch Natur um uns herum, der Vogel, eine Wiese vielleicht, ein paar Bäume, ein Flussufer.“
Nagano war damals, mit Anfang Dreißig, nach Europa gekommen, um den französischen Maestro bei der Uraufführung seines Opus magnum zu unterstützen: Saint François d’Assise, ein Auftragswerk von Rolf Lieber­mann, der zu dieser Zeit die Pariser Oper leitete. Vier Jahre hatte Messiaen am selbstverfassten Libretto und der musikalischen Gestaltung gearbeitet, weitere vier nahm die umfangreiche Orchestrierung in Anspruch. Für den Endspurt, das letzte Jahr vor der Uraufführung 1983 unter dem Dirigat von Seiji Ozawa, lud er den ­jungen Nagano zu sich nach Paris ein, ließ ihn über ­Monate bei sich wohnen und die umfangreichen Proben zu Saint François leiten.

Die Musik des Synästheten Messiaen, der sich selbst als Ornithologen bezeichnete, basiert auf den Klängen und Farben der Natur. Im Laufe seines Lebens archi­vierte er hunderte von Vogelstimmen, deren Vielfalt seine Werke durchzieht. Als Wesen des Himmels verbin­den sie für ihn das Irdische mit dem Göttlichen und sind damit auch Symbol seines Glaubens. Immer wieder setzt er sich in seinem Schaffen mit religiösen Themen aus­einander und fokussiert die Beziehung des Menschen zu Gott und der Schöpfung. Dass er in seiner einzigen Oper den heiligen Franz von Assisi (1181/2–1226) zum ­Thema machte, spricht von seinem Glauben, sicher auch von seiner Leidenschaft für Vögel, zu denen Franziskus predigte. Weit mehr aber ging es ihm darum, „die Beziehung von Gesellschaft und Natur und die Spannung zwischen beiden zu verdeutlichen“, so Nagano. Seine frei fließende Musik, die sich gerne von tonalem Zentrum und festem Metrum löst, erzählt von den Farben, den Wundern, den Vögeln, dem Glauben und wagt eine Annäherung an die Unendlichkeit. In gleichem Maße aber ist sie irdisch, natürlich, menschlich, erzählt von den Ängsten und Hoffnungen der Menschen und der Notwendigkeit, die Schönheit der Schöpfung zu erkennen und zu wahren. Während in den 70er Jahren die Anti-Atomkraftbewegung Wellen schlug, widmete sich Messiaen dem heiligen Franziskus, dem „Beispiel schlechthin für die Achtsamkeit gegenüber dem ­Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie“ wie Papst Franziskus seinen Namensgeber in seiner zweiten Enzyklika beschreibt. Das etwa vierstündige Stück vereinigt die Fülle von Messiaens Lebenswerk und wirkt in seinen acht Bildern wie Anfang und Bilanz zugleich. „Ich wollte die fortschreitenden Stadien der Gnade in der Seele des heiligen Franziskus schildern“, beschreibt es der Kom­ponist, und lässt uns teilhaben an Zwiegesprächen der Brüder mit Franziskus, an dessen Begegnung mit einem Aussätzigen, einer Engelserscheinung, der berühmten Vogel­predigt und schließlich den Stigmata und der Nach­folge Jesu. „Franz von Assisi stirbt, und die Oper endet mit einem leuchtenden, langgedehnten C-Dur-Akkord“, so Nagano, „das C ist der Urton der Musik, der Anfang und das Ende. Keine Tonart strahlt in der Musik heller und reiner als C-Dur. Franz von Assisi stirbt in weißem Licht – von der Wahrheit Jesu erleuchtet“.

Es sind die markanten Punkte der Bewusstwerdung und des Voranschreitens in der Biografie des Heiligen, denen Messiaen nachgeht. Doch lohnt ein Blick in die Vorgeschichte dieses einzigartigen Menschen aus Um­brien: Als Sohn eines reichen Tuchhändlers wächst Franziskus in der Unterstadt Assisis auf, liebt Tanz, ­Gesang und Abende auf der Piazza, kleidet sich in teure Gewänder, arbeitet für den Vater und zieht als junger Mann mit Pferd und Rüstung voller Ritterideale in den Kampf, durchlebt Gefangenschaft, Krankheit und Depression. Er beginnt zu zweifeln und zu suchen, widmet sich den Armen, den Kranken, preist die Natur. Er legt sein Gewand und seine Schuhe ab, wird selbst zum Ausgestoßenen und findet Gleichgesinnte, die nackten Fußes seinen Weg begleiten. Aus völliger Armut erwächst der Orden der Minderen Brüder, den Papst ­Innozenz III. 1210 bestätigt. Die Auseinandersetzung mit solch einer Biografie, mit den Idealen des Evangeliums, der völligen Selbstüberwindung stellt eine Herausforderung dar – für Messiaen, der fast ein Jahrzehnt an seiner gigantischen Oper arbeitete ebenso wie für jeden Interpretin. Ein Blick auf die Orchesterbesetzung, die allein sieben Flöten unter der umfangreichen Bläserbesetzung verlangt, fünf Schlagzeuger, einen großen Streicherapparat sowie drei Ondes Martenot, ein elektronisches Musikinstrument, das wie das Theremin auf dem Prinzip des Schwebungssummers beruht, lässt die Klangfarbenfülle des Werkes erahnen. Eng verwoben und oft im Wechselspiel mit reinen Instrumentalpassagen hören wir die Worte des heiligen Franziskus ebenso wie freier nacherzählte Passagen aus historischen Biografien und Legen­den, die Messiaen zusammentrug: „Herr Jesus Christus, gewähre mir eine zweifache Gnade, bevor ich sterbe. Die erste: dass ich in meinem Körper den Schmerz fühle, den du ertragen hast im Augenblick deines grausamen Leidens! Die zweite: dass ich in meinem Herzen die Liebe fühle, von der du entflammt warst und die dir erlaubte, für uns Sünder ein solches Leiden auf dich zu nehmen.“ Die Worte ertönen aus der Mitte des Konzertsaales, gesungen, gesprochen, gepredigt von Bariton Johannes Martin Kränzle. Um ihn herum, das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano, die jungen Stimmen der Audi Jugendchorakademie, wei­tere Gesangssolisten, das Publikum und alle umgebend: der Engel als Gesandter Gottes, gesungen von Anna Prohaska.

„Franziskus’ Botschaft zu vernehmen, in seine Gedan­ken einzudringen, sein Wort zu verstehen, ist das Zentrum dieser Aufführung“, so Georges Delnon, „zusätz­lich gibt es eine visuelle Ebene, die sich bewusst zurückhält und einen Rahmen schafft, der nicht nur die Musik, sondern das philosophische Ansinnen dieser Scènes Francisquaines mittels Video, Licht, Text und kleinen räumlichen Eingriffen ergänzt. Im Zentrum die Frage, für was die Ideale des heiligen Franziskus heute stehen und wer in unserer Gesellschaft für sie einsteht bzw. sie weiterentwickelt.“ Die Entscheidung, Messiaens Oper nicht in der Staatsoper, sondern bewusst in der Elbphiharmonie, in Helligkeit, Weite, exzellenter Akustik und beinah sakraler Atmosphäre zu verwirklichen, trafen Nagano und Delnon bereits im Anfangsstadium der Projektkonzeption, um der besonderen Form und meditativen Stimmung des Werkes gerecht zu werden. „Der ganze Innenraum des Konzertsaals wird so zur Bühne, die Zuschauerinnen zum Teil eines großen Ganzen im Sinne eines möglichst starken gemeinschaftlichen Erlebens dieses großartigen Werks. Wir suchen nicht nur nach dem optimalen Klang im Raum, sondern begreifen den einzigartigen Raum-Klang des Saals als theatralisches Element für sich. Die Zuschauer*innen werden bestenfalls das Gefühl haben, mittendrin zu sein und in die Musik hineingesogen zu werden“, beschreibt Delnon das gemeinsame Vorhaben.

Es ist eine Einladung der Staatsoper, des Philharmonischen Staatsorchesters und HamburgMusik im Rahmen des Internationalen Musikfests, dem Klang der Natur, der Schönheit der Schöpfung und nicht zuletzt den menschlichen Emotionen und Gedanken Raum zu schenken mit einem großen und doch höchst intimen musikalischen Ereignis.