Händel’s Factory: Hallelujah! Oder Heute keine Reifröcke bitte

Vier Jahre lang standen sie in Hamburg gemeinsam auf Bühne: Adriana Altaras als Golde und Gustav Peter Wöhler als der Milchmann Tevje in Ulrich Wallers Erfolgsproduktion von Anatevka am St. Pauli Theater. Nun treffen sie sich in der opera stabile, der Studiobühne der Staatsoper Hamburg, wieder.

Altaras führt Regie und Wöhler übernimmt die Rolle des Georg Friedrich Händel in der Uraufführung „Händel’s Factory“. Adriana Altaras ist seit vielen Jahren eine erfolgreiche Schauspielerin in Film, TV und auf der Schauspielbühne, sie inszeniert seit über 30 Jahren spartenübergreifend Musical, Schauspiel, Oper und Operette (und hat dabei von der Off-Bühne bis zur Staatsoper unter den Linden in Berlin im besten Sinne ihre Spuren hinterlassen), und sie ist längst eine erfolgreiche Bestseller-Autorin mit Titeln wie Titos Brille (mit ihr selbst auch verfilmt), Doitscha – eine jüdische Mutter packt aus und zuletzt Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Im Jahr 2000 sah ich an der Berliner Neuköllner Oper zum ersten Mal eine Inszenierung von ihr. Sie hatte der bis dahin so ziemlich vergessenen Barockoper La sorella amante von Johann Adolf Hasse einen neuen Untertitel gegeben: „opera rasante“. Und das war Programm. Tempo, Witz, turbulente Ensembles, Temperament sind ein Markenzeichen der Regisseurin. Doch hat sie inzwischen ebenso erfolgreich große tragische Werke auf die Opernbühne gebracht, darunter „­Tosca“, „Rigoletto“, „Carmen“ bis hin zu „Elektra“.

Foto: Hans Jörg Michel

Die Faszination, die Musik und Oper auf so viele Menschen ausüben, liegt vielleicht darin, dass sie Freude, Schmerz, Trauer, Wehmut, Triumph, Liebe und selbst den Tod so vielschichtig, mit einer unauflöslichen Mischung von emotionalem Tiefgang, großer Show und Innerlichkeit zum Ausdruck bringen können, wie kaum eine andere Kunst. Gerade der Grenzüberschreitung zwischen Schauspiel, Musiktheater, zwischen „U“- und „E“- Musik gelingt das besonders intensiv. Ein solcher Grenzgänger ist Gustav Peter Wöhler. Die Filme und TV-Produktionen, in denen er mitspielte, lassen sich kaum noch zählen. Als Bühnenschauspieler begann er 1981 gleich bei Claus Peymann in Bochum, um dann zu Zadek an das Deutsche Schauspielhaus zu wechseln, wo er 14 Jahre Ensemblemitglied blieb. Er spielte bei den Salzburger Festspielen, bei den Nibelungen-­Festspielen in Worms und ist aktuell erneut am St. Pauli Theater in der Dreigroschenoper zu erleben. Auf der Bühne der Staatsoper Hamburg verkörperte er erst kürzlich wieder den Frosch in der Fledermaus. Mit seiner Gustav Peter Wöhler Band ist er längst deutschlandweit auf Tournee, 2018 feierte die Band ihr 22-jähriges Jubiläum im großen Saal der Elbphilharmonie.

Andreas Seifert verkörpert an Wöhlers Seite die Figur des Johann Christoph Schmidt, Händels Vertrauten, Faktotum, engstem Mitarbeiter. Seifert blickt auf eine lange Karriere als Schauspieler in Film, Fernsehen und Theater zurück und steht erstmals in der Staatsoper auf der Bühne.

Foto: Hans Jörg Michel

Christoph Klimke schrieb den Text zu „Händel’s Factory“ in Anlehnung an ein Kapitel aus Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit. In Georg Friedrich Händels Auferstehung schildert Zweig die Entstehung des Messias, dem Werk, mit dem Händel unsterblich wurde. Der Text entstand 1935, zehn Jahre zuvor hatte Zweig in Wien eine „unvergessliche Aufführung“ des Messias unter Bruno Walter erlebt und mit dem Dirigenten darüber intensive Gespräche geführt. Musik war für Zweig „überweltlich und überpolitisch“, in seiner Erzählung ereignet sich das Wunder, dass dem von einem beinahe tödlichen Schlaganfall getroffene Händel der Text zum Messias zugesandt wird und er darüber ins Leben zurückfindet. In der ersten englischen Ausgabe trug diese „Sternstunde“ denn auch den Titel The Lord Gave the Word. Zweigs Schilderung entspricht nicht den heute bekannten biografischen Umständen; aber richtig ist, dass der Messias für Händel eine besondere Bedeutung hatte, das empfanden auch die Zeitgenossen so. Händel war der bedeutendste Opernkomponist des Barock, neben Bach und Telemann der bedeutendste Musiker der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt. Mit seinen Oratorien schuf er ein ganz neues Genre, ­wobei dem Messias eine Ausnahme- und Schlüsselstellung zukommt. Es ist Händels einziges wirklich geistliches Werk, ohne äußere dramatische Handlung, dabei steht das größte Drama der christlichen Welt im Zentrum, das seit über 2000 Jahren die Menschheits­geschichte entscheidend prägt.

Die Uraufführung fand in Dublin zugunsten der Unterstützung Strafgefangener, eines Armenkrankenhauses und eines Waisenhauses statt, dem der Komponist das Werk schenkte, um es auch zukünftig für wohltätige Zwecke aufzuführen, diese Noten werden dort noch heute aufbewahrt. Der erwartete Andrang bei der ersten Aufführung am 13. April 1742 war so groß, dass der Aufruf veröffentlicht wurde, „dass die Damen, welche dieser Vorstellung die Ehre ihrer Gegenwart erweisen, nicht in Reifröcken erscheinen möchten. Dies ist dem guten Zwecke dienlich, weil dadurch weit mehr Zuhörer Raum finden.“ Das Dublin Journal schrieb im Anschluss: „Die wichtigsten Kritiker erklärten es für das vollendetste Werk der Musikgeschichte. Erhabenheit, Größe und Zärtlichkeit, gebunden an die würdigsten, majestätischsten und bewegendsten Worte, taten sich zusammen und bezauberten Herz und Ohr gleichermaßen.“

Foto: Hans Jörg Michel

Christoph Klimke geht es in „Händel’s Factory“ nicht um eine historische Rekonstruktion. Er wirft auf sehr originelle und durchaus humorvolle Weise einen Blick auf das Wesen von Schöpfertum und Genie, dabei den Ausnahmecharakter des Künstlers Händel würdigend und gleichzeitig den Menschen und seine Zeit aus unserer Perspektive schildernd. Was ist ein Genie, was ist Kunst und wie beeinflusst sie ihre Zeit, wann wird sie zum Geschäft? Händel war ein Superstar seiner Zeit und doch vor Rückschlägen und als sein eigener Unternehmer auch vor finanziellen Risiken bis hin zum Bankrott nicht gefeit. Er musste seine Werke verkaufen, musste Aufmerksamkeit erregen und sich dabei doch treu bleiben, den Wesenskern seiner Musik nicht verraten. Factory – der Begriff verweist auf einen Superstar der Kunstszene der 1960 er Jahre: Andy Warhol. In der 47. Straße in Manhattan gründete er eine Art Kunstkommune, dessen Zentrum er war; in den Räumen der Factory entstanden ­seine berühmten Siebdrucke, sie waren Kulisse für seine Filme. Mick Jagger, Jim Morrison, Salvador Dalí und Bob Dylan waren hier zu Gast. Die Rockband The Velvet Underground hatte hier ihren Probenraum. In der Factory schlug für eine Dekade das künstlerische Herz der westlichen Welt. Somit wird die Frage nach dem Wesen des Künstlertums zum überzeitlichen Thema von Klimkes Text.

Johannes Harneit hat nach Musik von Händel ein ganz eigenständiges neues Werk geschaffen. Musik des 18. Jahrhunderts, mit heutigen Mitteln umgesetzt und szenisch gedacht. So entstanden drei Teile, die schließlich in den Messias münden – am Ende wird natürlich das Hallelujah erklingen!

Freuen Sie sich auf einen ungewöhnlichen Abend in der ­opera stabile, der die Musik Händels ganz neu zum Leben erweckt, ein Abend, der vielleicht eine Operette, eine queere Lovestory, ein Künstlerdrama, eine ganz große Oper sein könnte, oder auch alles gleichzeitig– entscheiden Sie selbst!